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Donnerstag, 8. Dezember 2011

Wie ich trotz und wegen der DDR zu meinem ganz individuellen Kommunismus fand


 Sagen wird man über unsre Tage


sagen wird man über unsre tage
den einen wettbewerb
den hatten sie verloren
groß war ihr mund
die kehle ohne frage
jedoch dem mahnen wehrten sie die ohren

sie kauten schwer und lange noch an diesem erbe
doch erst durch ihren neuen anbeginn
so ist nun mal das menschliche gewerbe
bekamen Marx und Einstein endlich sinn




( ... gekürzt)

Keine Ahnung, wie ich geworden wäre, wäre meine Familie nicht im Frühjahr vor Abschluss der ersten Klasse in die Stadt gezogen. Zuvor war ich als Außenseiter regelmäßig verprügelt worden. Das wichtigste Gefühl meinen künftigen Mitschülern gegenüber war deshalb anfangs die nackte Angst. Um keinen Preis wollte ich aber wieder so isoliert bleiben wie zuvor.
Die Rolle des Chefs war vergeben, die des Klassenkaspers frei, und wenigstens in den folgenden drei Jahren füllte ich sie fantasievoll aus. Den Unterricht zu stören fiel mir nicht schwer und die dümmsten Kinderwitze verwandelten sich in meinem Mund in lange Geschichten. Die Rolle hatte mehrere „Vorteile“: Man schenkte mir Aufmerksamkeit und beim großen Mitschülermobbing konnte ich zusehen. Das Hauptopfer war über viele Monate ein Mädchen, das durch ihren Geruch und ihre staksigen Bewegungen auffiel und das Hinundherschubsen dadurch vergnüglich machte, dass sie so herrlich verängstigt „Was hab ich euch getan?“ oder „Lasst mich doch in Ruhe!“ jaulte. Die Lehrer konnten nicht eingreifen, weil der Terror erst nach Unterrichtsschluss draußen vor dem Schulgebäude anfing. Der Hofausgang lag neben der Haupttür, sodass „Erdnuss“ nicht ungesehen die Schule verlassen konnte – und immer war wer vor ihr da, um den sich dann die anderen Wartenden sammelten.
Zuerst war es ein Triumph, als das Mädchen aus der Schule genommen wurde und in eine „Hilfsschule“ kam. Dann aber … Im Unterbewusstsein einiger Mitschüler meldete sich wohl das Gefühl, das Leben eines Mitschülers versaut zu haben. Sie hatte uns ja wirklich nichts getan. Zumindest in mir erwachte das schlechte Gewissen, dass ich lachend dabeigestanden hatte.
Mit dem Verschwinden des „Standardopfers“, an dem meine Mitschüler ihren Schulfrust abreagiert hatten, begann die Suche nach neuen. Wir waren eine Klasse mit Jungen-Überschuss und die körperlich Stärkeren begannen nun die Jagd auf Schwächere. Damit geriet auch ich wieder ins Visier. Allerdings hatte sich die Situation innerhalb der Klasse verändert. Ich hatte inzwischen einen Kreis von kindlichen Partnerschaften: Einen Freund, der an mir hing wie Watson an Holmes, und noch ein paar, durch die ich mich als Bandenchef fühlte. Ausnahmslos aber nur körperlich Schwache. Die gegenseitige Unterstützung bestand unter anderem darin, dass ich bei den Hausaufgaben half und dafür meine Kunst-Werke für den Zeichenunterricht vorbereitet bekam, sodass die Vieren in Zeichnen nun verschwanden. Meine logische Lektion: Andere konnten etwas, was ich nicht konnte, und umgekehrt. Wenn dies auch offiziell nicht erwünscht, eigentlich sogar Betrug war, so stand doch fest, dass die gegenseitige Nutzung unserer Stärken allen Beteiligten Vorteile brachte. Es machte mir dabei wenig aus, dass ich mehr einbrachte, als ich herausholen konnte.

Das Problem der Prügel, des Mobbings der Schwachen, war damit aber noch nicht gelöst. Es fanden nämlich immer ausreichend körperlich Überlegene zusammen, um uns Schwächere zu quälen. Was am meisten auffiel: Die da prügelten, waren „leistungsschwache“ Schüler, die sich auf solche Weise ihr „Sieg-Erlebnis“ aus der Schule holten, die Betroffenen jedoch versuchten – letztlich meist erfolglos – sich im Bewusstsein der bevorstehenden Niederlage der körperlichen Auseinandersetzung zu entziehen … sie liefen also davon. Eigentlich ging dies so bis Klasse 7. Und dann passierte etwas, was ich im Nachhinein vielleicht überbewertet und fehlinterpretiert habe. Aber es ist eben genau so passiert:
In einer großen Hofpause war es mir gelungen, alle, die auf „meine“ Seite gehörten, zu sammeln. Es kam zur Schlacht. Diesmal blieben wir nicht nur (wie sonst auch) zahlenmäßig überlegen, sondern wir kämpften auch geschlossen. Und wir beendeten diese Hofpause als Sieger. Womit ich nicht gerechnet hatte, trat ein: Von kleinen „Kabbeleien“ (wie das meine Mutter genannt hätte) abgesehen, trat ein dauerhafter Friede ein. Nicht, dass wir nun alle Freunde geworden wären, aber das permanente Massenmobbing war zu Ende.
Klar, wir waren einfach insgesamt reifer geworden und diese „Schlacht“ war vielleicht nur „Anlass“ der Veränderung, aber auf jeden Fall erlebte ich hier die Siegpotenz von Underdogs, die als solidarische Gemeinschaft kämpfen. Ein Anhänger körperlicher Gewalt bin ich damit nicht geworden. Allerdings hatte ich erlebt, dass sie notwendig gewesen war, um die Macht der Gewalt zu beenden.

Ab Klasse 7 wollte man unser Bewusstsein durch Staatsbürgerkunde- und Geschichtsunterricht „bilden“. Rückblickend muss ich allerdings sagen, dass die ethischen Normen, die nun Namen bekamen, längst geprägt waren, indem sie uns vorgelebt oder eben nicht vorgelebt wurden. „Gut“ oder „Böse“ war uns greifbarer als als „Sozialismus“ und „Kapitalismus“ ...

Vielleicht hätte ich unter anderen Umständen ein freundlicheres Verhältnis zur „Nationalen Volksarmee“ der DDR entwickelt, aber die Verhältnisse waren eben nicht so. Beispielsweise war meine Sportbegeisterung nie so groß, dass mich Körperertüchtigung gelockt hätte, und als emotional egozentrischer Anarchist war mir jeglicher unterordnender Gehorsam zutiefst zuwider. (In einem krankhaften Anfall von Übermachtssadismus spielte ich einmal meinem engsten Freund gegenüber einen SS-Mann: Ich zwang den schwarz Gelockten durch brutale Gewalt dazu „Ich bin eine dumme Judensau!“ auszurufen, um freizukommen … und ich könnte nicht sagen, vor wem ich mich nachher mehr ekelte: vor ihm, der sich derart demütigen ließ, oder vor mir, dass ich zu so etwas fähig gewesen war …) Rund wurde meine Grundhaltung zum Thema Armee aber eigentlich erst dadurch, dass es in der Klasse bei den Auseinandersetzungen mit der Staatsbürgerkundelehrerin einen einzigen Schüler gab, der nach dem Lehrerinnenmund gerecht werdenden Antworten suchte. Dieser Speichellecker mit mäßigem geistigen Niveau strebte an, Offizier zu werden. Ich konnte ihn mir einfach zu gut in preußischen Stiefeln vorstellen. Das schon vorher ausgeprägte Bild, Körperkraft zeigten die, denen es an Geisteskraft mangelte, wurde untermauert – nur eben auf höherer Ebene. Du siehst also: Auch ich bin nicht frei von Vorurteilen ...
Die Stabü-Lehrerin hat bei mir dann doch etwas bewegt. Im Nachhinein tut sie mir leid. Es war mir ein teuflisches Vergnügen, den ungeliebten „Rotlicht“-Unterricht zu sprengen. Hier konnte ich die ganze spitzfindige Raffinesse an die Front werfen. Ich hatte die meisten Schulbücher schon vor Beginn der Unterrichtsjahres überflogen. Im Staatsbürgerkunde-Lehrbuch fiel mir dabei etwas auf: Außer bunten Bildchen gab es Kästchen mit Zitaten der „Klassiker“ des Marxismus-Leninismus, die ich sozusagen als die Verkündigung Moses ansah (so waren sie wohl auch gemeint), während der eigentliche Text das profane Bla-Bla war. Das Gute daran: Es ließen sich in dem profanen Zeug Widersprüche zu Gottes, Pardon: Marxens, Kernsätzen in den Kästchen entdecken. Also sprengte ich Stunden mit der Beweisversuchen, dass das, was wir als wunderbare Wirklichkeit unserer größten DDR aller Zeiten erklärt bekommen sollten, gar nicht das war, was der große Marx sich als sozialistische Gesellschaft vorgestellt hatte. Widerspruch als Denksport.
Die intelligenten Mitschüler verfolgten die Diskussionen mit Vergnügen und unterstützten mich nach bestem Wissen. Die weniger intelligenten freuten sich, dass die Stunden nicht als langweilige Lernstunden versandeten. Nur eben jener Möchtegern-Offizier mühte sich um Unterstützung der Lehrerin. Die war von uns Jungen begeistert. Weil wir so offen Interesse zeigten, ließ sie ihre Stundenvorbereitung in der Tasche und versuchte, unser Denken zu lenken. Argumente wurden nicht niedergeschlagen und „Erklärungen“ vermittelt, wie wir etwas sehen sollten, sondern sie versuchte, uns die Widersprüchlichkeit von Vorgängen begreiflich zu machen. Nicht einfache Antworten, sondern Bewegung und unter der Oberfläche des offen Sichtbaren gebe es erkennbare Zusammenhänge, um deren Aufdeckung man sich bemühen muss – das nenne man im Sinne von Marx zu handeln und das könne sogar Spaß machen.
Sie verführte mich damit zu einem Trugschluss: Voreiligerweise dachte ich, so sei politische Bildung. Im Geschichtsunterricht wurde ich eines Besseren belehrt. Der Geschichtslehrer frönte der großen Liebe zu seinen faszinierenden Tafelbildern. Mit feiner Schrift verteilte er über die ausgeklappte Tafel (mitunter einschließlich Rückseite) Kästchen, zwischen denen er Pfeile fliegen ließ. Vorher – nachher, Ursache – (Anlass) – Wirkung … Extrem schematisch, obwohl nicht einmal undialektisch. Von der Ursache ein dicker Pfeil zur Wirkung und darunter dann der dünne Pfeil in Gegenrichtung dafür, dass das, was eigentlich Folge war, auf die ursprüngliche Ursache zurückwirkte und dass es eben Haupt- und „Neben“-Gründe derselben Sache gebe.
In diesem Fach wurde erstmals laut das Wort „Kommunismus“ ausgesprochen. Über den Begriff wusste ich wenig. Eigentlich nur, dass das eine „klassenlose Gesellschaft“ wäre, in der es „keinen Staat“ gäbe. Mit Klassen konnte ich wenig anfangen, eigentlich nur mit Schulklassen, Staat aber, da gehörten also mindestens all die Gewaltinstrumente dazu. Die hat jeder, um sich selbst zu verteidigen. Ließe also eine Seite ihren „Staat“ verschwinden, wäre der Weg der anderen Seite frei, die eigene Macht zu erweitern. Also könnte es einen „Kommunismus“ auf der Welt auf jeden Fall nicht geben, solange es zugleich das Anti-System Kapitalismus gäbe … Mit dieser Schlussfolgerung begann ich; zur logischen Herleitung kam ich nicht mehr. Mir wurde sofort das Wort entzogen, mich traf ein Schwall von Flüchen. Mit der übelsten Bezeichnung konnte ich nichts anfangen: „Trotzkist“. Ausgesprochen als sei es noch etwas Schlimmeres als Faschist und ich hatte gerade schlimmstmögliche Feindpropaganda in den Raum geworfen. Alles nur wegen einer primitiven logischen Ableitung, hinter der ich, wenn auch umfassender begründet, heute noch stehe. Wenn ich dem entsetzten Lehrer noch an den Kopf geworfen hätte, dass also der entfaltete „Kommunismus“ keine Politik der friedlichen Koexistenz kennen könne … Natürlich habe ich mir bei diesem Lehrer weitere Schlussfolgerungen verkniffen. Hoffentlich komme ich bei dir nicht wie dieser Lehrer rüber.

Meine Sicht der deutsch-deutschen Fragen stammte nicht aus dem Schulunterricht. Schwerin war glücklicherweise kein „Tal der Ahnungslosen“. Schon früh, ich erwähnte es schon, bezog ich die Nachrichten aus aller Welt nicht rotgefiltert aus der „Aktuellen Kamera“ sondern gegenmanipuliert von der „Tagesschau“. Allerdings hatte ich gelernt, dass es keine „Nachrichten“ an sich gibt. Mir war selbst das aufgefallen, was „Sudel-Ede“ Schnitzler aus den Westsendungen extrahierte. Auch an der Stelle war ich früh Außenseiter: Mir gefiel der Typ, der in der trüben Brühe der anderen Seite fischte.
Ganz unschuldig an meinem Verständnis „kapitalistischen“ Denkens war sicher auch nicht, dass alle Verwandtschaft im Westen lebte. Langsam der kindlichen Überheblichkeit entwachsend entwickelte ich ein feines Gespür für Herablassung und Überheblichkeiten anderer Leute. Und eure Pakete … na, du weißt. Insofern war deine Großmutter mitschuldig an meiner antikapitalistischen, ja eigentlich an der grundsätzlichen Antihaltung materiell eingestelltem Denken gegenüber.

Aber noch etwas zeitlich zurück, als sozusagen kindlich-naive Keime meiner späteren „kommunistischen Visionen“ gelegt wurden:
Aus dem, was ich bisher erzählt habe, müsste klar geworden sein, dass ich nie ein extrem kommunikativer Typ gewesen bin oder gar ein „Charismatiker“. Es gab aber eben Situationen, wo positive Gefühle vermittelt wurden. Dazu gehörten einige der Veranstaltungen der Pioniere und der FDJ. Meine Mutter hatte mich zuerst auch zur „Christenlehre“ in die Kirche geschickt, wo uns Geschichtchen erzählt, und wir, wenn wir brav waren, mit Bildchen (heute würde man wohl „Sticker“ sagen) belohnt wurden. Für die Anregung meiner Fantasie waren diese Nachmittage wahrscheinlich sogar positiv. Aber für mich Acht- oder Neunjährigen war es herabwürdigend, dass der Pfarrer sie uns Kindern als wahre Geschichten anbot. Ich verstand da noch nichts von der „Wahrheit“ in Gleichnissen, empfand es aber als Beleidigung, dass jemand erwartete, ich würde Märchen für Wirklichkeit nehmen. Das war dann Grund für entschiedenen Protest bei meiner Mutter und fast das Ende meiner Kontakte zu kirchlichen „Würdenträgern“. (Später empfand ich hingegen die Gastfreundschaft von Kirchenleuten auf meinen Tramptouren als wohltuend.)
Anders war das bei manchen Pioniernachmittagen. Die nachhaltigsten waren jene, bei denen wir Eicheln und Kastanien für die Tierparktiere (und zum Basteln) sammelten. Keine Ahnung, ob unsere Eicheln den Tieren dort wirklich das Überwintern erleichtert haben. Heute würde ich sagen, das war auch nicht das Wichtigste. Viel wichtiger war etwas Anderes: Wir hatten das Gefühl, etwas Nützliches, ja Wertvolles zu tun, was zugleich richtig Spaß machte. Das heißt, das Sammeln der Eicheln (und das Werfen nach Anderen) hätte auch OHNE einen höheren Sinn Spaß gemacht, es war ein vergnüglicher Zeitvertreib; das Gefühl, sozusagen unserem Patenschwein das Leben zu erhalten, machte uns aber erst richtig stolz auf eine eigene Leistung. Ich hätte da nicht an „Kommunismus“ gedacht, aber hat man nicht auch als Erwachsener Anspruch auf kindliche Freude an der eigenen Nützlichkeit? Wird sie einem nicht erst durch die Erfahrung von „allgemeinem“ Egoismus vergällt? Positiv bleiben Reste solchen Erlebens natürlich besonders dann zurück, wenn man den Erfolg greifbar gemacht bekommt. Wir waren also eifrige Besucher des Tierparks, wo uns der Nutzen unseres Tuns von kompetenten Personen bestätigt wurde. (Mir scheint es selbstverständlich, dass Kinder, denen solche greifbaren Nützlichkeitserlebnisse versagt blieben, tendenziell ein Stück weiter zu Egoisten „erzogen“ werden – ohne eigentlich erzogen zu werden.) Ganz unmittelbar erlebten wir, dass es schwächere Wesen gibt, die durch unsere solidarische Hilfe überlebten. Okay … die richtige Vorbereitung auf eine Welt einzusetzender Ego-Ellenbogen wäre es nicht gewesen … aber darauf sollten wir ja auch nicht vorbereitet werden.
Solidaritätsaktionen wie später die für Angela Davis hatten zwei Seiten: Die übertrieben agitatorische, dass eine Kommunistin einfach unschuldig sein müsse (was sich im konkreten Fall bestätigte), aber auch eine „rein“ menschliche: Stellt euch schützend vor Menschen, die zum Opfer legaler (oder halb legaler) Ungerechtigkeit werden (könnten). Eine gute Sache wird doch nicht allein dadurch „schlecht“, dass sie mehr oder weniger „staatlich verordnet“ wird. Ich finde es heute peinlich, wenn ausgerechnet mit diesem Ausdruck „Linke“ den DDR-Antifaschismus verunglimpfen. Am System des damaligen (nicht) „realen Sozialismus“ gibt es viele Kritikpunkte. Dass sich ein ganzes Volk mit den wenigen aktiven Antifaschisten, die das faschistische Terrorregime überstanden hatten, identifizieren durfte, als wären wir alle Nachkommen mutiger Antifaschisten, halte ich für bedankenswert.

Wie gesagt, ein Großteil der Möglichkeiten, die uns Kindern auf die Nase gedrückt wurden, passte trotzdem nicht zu meiner sich entwickelnden Persönlichkeit: Fahnenappelle waren mir kleinem Anarchisten schon des Einordnens wegen suspekt. Zum Glück hielt sich die Zahl der militaristischen und Appell-Veranstaltungen, an denen ich teilnehmen musste, in engen Grenzen. Als wir im Unterricht Friedrich Wolfs „Kiki“ behandelten, wurde diese Geschichte sofort eine meiner liebsten. Die „Haltung“ des Hundes, die „Würde“ eines Zwangsappells durch Jaulen lächerlich zu machen, entsprach so ganz meinem Wesen. Ich starb sozusagen im Kreis der trauernden Gefangenen und fühlte mich zugleich als einer der ihren. Dabei begriff ich erst viel später, dass die „Bösen“ in der Erzählung nicht einmal „echte“ Faschisten gewesen waren, sondern sich ihnen Andienende. (Solltest du lesen, die Geschichte.)

Gemeinschaftliches Basteln und Malen und Sport waren mir der blanke Horror. Weil ich es nicht konnte, wollte ich es nicht. Je besser ich diesen Zusammenhang an mir verstand, umso besser begriff ich meine Mitschüler, die Grauen vor den Mathestunden empfanden, weil sie mit lauter Unlösbarem zusammenstießen.
Dafür war das Pionierhaus, genauer die Pionierbibliothek darin, für mich das Paradies. Das Haus wegen seiner vielen Möglichkeiten, die Bibliothek … Ich glaube, schon in der 5. Klasse hatte sie mir kaum noch Neues zu bieten und ich besuchte eine „normale“. Mein Schnitt waren vier bis fünf „richtige“ Bücher pro Woche. Ich las also kaum Kinderbücher, sondern reiste in die Welten von Maupassant, Balsac, Dickens und vielen anderen. Ich hatte trotzdem keine Ahnung, was eine Nutte wirklich war – ich empfinde heute weder mein Unwissen als Mangel noch die Tatsache, dass es in meinem Schwerin keine gab.
Durch jene sehr wilden, individualistischen Reisen durch die Weltliteratur veränderte sich unbemerkt und unterschwellig mein „Blick“. Ich war ein Junge, der zu viel geschmökert hatte. Zwar in keinem Karl May, aber bei Lieselotte Welskopf-Henrich, Jules Verne und überwiegend in Dingen, die nicht für einen Elf-/Zwölfjährigen gedacht waren. Und die DDR bot in der Folgezeit weitere Chancen zur Befriedigung meines wirren Kunsthungers: Jugendstunden und Theaterkreise. Auf die Mischung kam es an. So wirr, wie ich ahnungslos vor der „Weltkultur“ stand, so bunt gemixt wurden uns monatlich verschiedenartige Erlebnisse vermittelt. Opern, Schauspiele, Ballett, Heiteres … Das hatte einen eigenen Reiz. Nicht immer hoch kulturellen. Da bemühte sich unsere Musiklehrerin vergeblich um eine angemessene Einführung. Aber wir besuchten gern auch Kunstveranstaltungen, die wir kaum verstanden, denn was hätte es für einen besseren Vorwand gegeben, abends „die Sau rauszulassen“? Nicht jedem wäre mit vierzehn erlaubt worden, nach 22 Uhr durch die Straßen zu ziehen. Aber nach dem Theater …
Wie viel es bei jedem Einzelnen Positives bewirkt hat – wer vermag das einzuschätzen? Aber jeder hatte die Chance, seine Sinne zu schulen. Und das Staatstheater war gut. Dass dies in irgendeiner Weise ein „soziales“ Problem sein könnte (außer positiv im Sinne unseres Gruppenzusammenhalts), wäre keinem eingefallen, denn jeder konnte sich die Karten leisten. Die Eintrittskarten kosteten uns ja kaum mehr, als ihr Druck gekostet hatte …
Dann setzte meine erste „Schreibphase“ ein. Gedichte ... sehr weise, das Wesen der Welt erklärende und so hölzern holpernde, dass wirklich nur ich selbst von mir überzeugt sein konnte. Aber es gab die verschiedensten Fördermöglichkeiten. Einen Zirkel schreibender Arbeiter der deutschen Post beispielsweise, in dem kaum ein Mitglied etwas mit der Post zu tun hatte, und viele andere. So begegnete ich unterschiedlichen Denk- und Betrachtungsweisen. Das ging bis zum zentralen Poetenseminar der FDJ im Schweriner Schloss und draußen in der Neubausiedlung. Begegnungen mit kritischen „richtigen“ Schriftstellern, engagierten Menschen, die alle dafür eintraten, schärfer hinzusehen, „mit dem Herzen“ zu sehen, sich einzubringen. Begegnungen wurden organisiert, die uns die Widersprüche von Anspruch und Wirklichkeit von „unserem“ Sozialismus vor Augen führten. Fast noch Kinder erlebten wir jungen Poeten die zerplatzende Illusion zukunftsfähigen Bauens. Aus der Not geboren, schnell das Problem zu lösen, jedem, der Wohnraum brauchte, welchen zu geben, wurden Siedlungen auf die Wiese gesetzt, die nach etwa 25 Jahren planmäßig durch etwas Neues, Richtiges hätten ersetzt werden sollen – was dann natürlich nie geschah. So beschrieb es einer der Projektanten des Neubaugebiets Großer Dreesch. Viel später erfuhr ich, dass einige der so eifrig engagierten Autoren für das Ministerium für Staatssicherheit Berichte geschrieben haben. Sie haben viel zu schreiben gehabt über uns. Nein. Ich finde es nicht gut. Menschlich traurig. Aber bei denen, von denen ich es hörte und die ich selbst erlebt hatte, wusste ich: Aus niederen Beweggründen, zum Beispiel für Geld, haben sie es nicht getan. Sie waren wirklich überzeugt, mit ihrem Tun dem „Sozialismus“ zu nutzen. Dass sie ihm letztlich schadeten, hätte ich damals noch nicht verstanden.

Ich war ehrgeizig, wollte immer besser sein. Aber irgendwie war mir klar, dass ich mich nie wesentlich steigern konnte. Das wäre Zufall gewesen. Mir blieb nur eine andere Freude: „leistungsschwache“ Mitschüler zu guten Leistungen zu coachen. Also sie nicht abschreiben zu lassen, sondern sie zu Ergebnissen zu führen, die „man“ ihnen nicht zutraute. Das Gefühl, heimlicher „Vater“ einer guten Note Anderer zu sein, war nicht zu überbieten. Da konnte mir niemand etwas vorwerfen – Egoismus, Strebertum, was auch immer Negatives.
In der Neunten trimmte ich einen Mitschüler, der ein total gestörtes Verhältnis zur Mathematik hatte. Nun fiel ich in dem Fach immer noch aus dem Rahmen: Extrem langsam beim Schreiben konnte ich es mir nicht leisten, die einzelnen Teilschritte zu lernen und zu verwenden – ich verwendete abgekürzte Wege, die bei „normalen“ Schülern nicht akzeptiert worden wären. Mir war umfangreiche Lernerei suspekt. Was sollte ich nun aber dem Mitschüler erklären? Den vorgegebenen Weg Schritt für Schritt? Ich entschied mich für die Logik, die ich für mich entwickelt hatte. Immer wieder testete ich, was davon „haften geblieben“ war. Bei jedem kleinen Gedanken fragte er unsicher nervend „Soooo?“ Bis ich dann irgendwann erklärte, er bekäme jetzt eine Aufgabe, die er bis zum Schluss allein lösen müsse. Nachher würden wir prüfen, warum eventuell was falsch sei. Mehrmals versuchte er, mich zu einem Blick auf sein Blatt zu animieren. Endlich bot er mir eine Lösung an. Beim ersten Blick schrak ich zurück. 14 Schritte waren normal, er hatte sechs gebraucht, sodass ich erst rief, so ginge es nicht … Bis ich feststellte, dass er das, was ich ihm an Zusammenhängen erklärt hatte, in einem neuen Rechenweg umgesetzt hatte. Den hatte er selbst entwickelt. Plötzlich zerfiel alle meine „genialische“ Überlegenheit. Nur Geduld war geblieben, sich einem Problem eben anders als „normal“ zu nähern. Ein „schwacher“ Schüler war also eigentlich keiner, sondern nur einer, der andere Anregungen zum Denken brauchte, als er sie üblicherweise erhielt. In diesem einen Fall hatte ich solch eine Anregung gefunden. Welch ungeheures Potential musste in den Menschen stecken, wenn man sich ihrer geduldig annahm! Erstmals erschien mir „Leistung“ als Produkt von Zufällen und nicht als Ergebnis „guter“ oder „schlechter“ Schüler.

Und am Ende der 10. Klasse gab es noch eine „Offenbarung“. Meine Klasse machte eine einwöchige Abschlussfahrt. Zufälle brachten mich dabei mit einem Schüler zusammen, von dem ich kaum mehr wusste, als dass er mehrmals nur sehr knapp versetzt worden war. Wir unterhielten uns viel. Anfangs begeisterten wir uns an „Raumschiff Enterprise“ im Fernsehen. Das wäre ja so ungewöhnlich nicht gewesen. Aber beeindruckend war das darüber hinausgehende Wissen und Denken des Jungen, sein … philosophischer Scharfblick. Klar haben wir auch viel „gesponnen“. Aber wichtiger war, dass ich erstmals bei jemandem, den ich weit unter meinem geistigen Niveau eingeordnet hatte – die ganze Schulzeit lang – ein geschlossenes kluges Denksystem erlebte. Eigentlich machte er sich um die Zukunft der Welt mehr Gedanken als ich und er vermochte seine Überlegungen verblüffend klar zu formulieren. Ich bekam das Gefühl, in den letzten Jahren einen Freund übersehen zu haben, weil ich mich innerlich zu sehr über ihn erhoben hatte, um ihn überhaupt zu bemerken. Ich ahnte nun, dass es extrem unterschiedliche Möglichkeiten gibt, über die ein Mensch für andere, zumindest aber für einen anderen „wertvoll“ sein kann. Schon damals begann es mir zu widerstreben, solche „Werte“ gegeneinander aufzuwiegen. Warum soll jemand wegen seiner Besonderheit besser oder schlechter sein als ein anderer mit dessen anderer? Vor allem führten mich unsere utopischen Zeitreisen zu einer bitteren Erkenntnis: Es war einfach Zufall, dass ich in meine Zeit hineingeboren war und hier mit guten Zensuren brillierte. Von der sozialen Herkunft in keiner Weise privilegiert graute es mir vor der Vorstellung, in einer vergangenen Zeit zur Welt gekommen zu sein. Meine Art zu denken wäre da abfällig weggewischt worden. Nur die Muskelkraft hätte gezählt. An der aber haperte es. Oder was wäre gewesen, wäre ich in einer vergangenen Zeit zur Schule gegangen? Beim Auswendiglernen war ich schwach. Ich wäre also ein „schlechter“ Schüler gewesen. Wer konnte mir sagen, welche Qualitäten in 100 Jahren erwünscht sein würden – die ich vielleicht hätte, vielleicht aber auch nicht. Mein gutes Zeugnis war also nicht objektiv, sondern dem Zufall geschuldet, dass Fähigkeiten zu meinen Besonderheiten zählten, die gerade erwünscht und messbar gewesen waren.

Auch bei der Einschätzung der „Persönlichkeit“ gab es breit gefächerte Unterschiede. Wir Schüler hatten uns einen Sport daraus gemacht, in den letzten Schultagen der Jahre das Klassenbuch zu durchstöbern. Dort trug dann jeder Lehrer für jeden Schüler die „Kopfnoten“ ein: Betragen, Mitarbeit, Ordnung … Gesamtverhalten. Bei „Betragen“ erhielt ich vom Klassenlehrer Dreien oder Vieren. Nicht wenige andere Fachlehrer werteten „sehr gut“. Aber ich war doch derselbe Mensch?! (Nur eben nicht pflegeleicht und normgerecht.) Klar, ich fiel aus dem Raster. Dafür gab es mehrere Erklärungen: Entweder war das Raster falsch oder es war falsch, mit einem „Raster“ zu arbeiten oder … ich hätte mich endlich richtig anpassen müssen an das, was Andere von mir erwarteten. Gelegentlich versuchte ich das. Aber es ging nicht. Ich hätte mich selbst verleugnen müssen.

Es folgte eine beruflich extrem wilde Zeit. Mit großer Wahrscheinlichkeit wäre ich dabei in einer heutigen, also „kapitalistischen“ Gesellschaft versumpft. Genauer: Ich hätte so viele Sprünge einfach nicht geschafft. Zumindest hätte ich meinen Lebenslauf da wohl entweder fälschen oder akzeptieren müssen, dass ich, als unzuverlässig abgestempelt, zu den meisten Vorstellungsgesprächen überhaupt nicht eingeladen worden wäre. Innerhalb von drei Jahren wechselte ich zwischen drei Berufen in Handel, Kultur und Industrie, wurde ich von der „Nationalen Volksarmee“ nach einem halben Jahr als unverdaulich wieder ausgespuckt und … fand dank der erwünschten Praxiserfahrungen einen Studienplatz als künftiger Lehrer. Ich blicke auf viele Details heute mit Verwunderung zurück. Eigentlich hätte es das alles nicht geben dürfen. Es gab mich aber …

Ich bin also schon früh zwischen „anständigen“ Berufen und der Kunst hin und her gependelt. Logisch, dass mir die Art von Künstlern, mit Arbeit umzugehen, so nahe liegt, dass ich sie gern als künstlerisches Bild für die Arbeit im Kommunismus verwende. Denn meine Vorstellung ist ungefähr so, dass sich dann fast alle Arbeit als Kunst beschreiben lassen wird. Aber eben nur fast ...

Es wäre mir sicher möglich gewesen, nach der 8. Klasse aufs Gymnasium zu wechseln. Diese Einrichtung hatte aber bei uns den Ruf, nur etwas für strebsame Mädchen zu sein. Außerdem hatte ich keinerlei Berufsziel. Allein auf die Frage, was ich NICHT wollte, hätte ich eine Antwort gehabt: Mein Geld mit körperlicher, besonders handwerklicher Arbeit zu verdienen. Aber positiv etwas wollen?
Mein Vater hatte sich dafür eingesetzt, dass ich einen der drei Ausbildungsplätze zum „Wirtschaftskaufmann mit Abitur“ in seinem Betrieb bekam. Mutter und Schwester waren Verkäuferinnen, also im Handel, Vater in der Großhandelsgesellschaft „Waren täglicher Bedarf“. Die Ausbildung interessierte mich … nicht. Ich konnte ja aber nicht nichts machen. Wenigstens war ich „untergebracht“. Ich durchlief in der Ausbildung die verschiedensten Abteilungen und Bereiche des Betriebes, der für die Versorgung Schwerins mit Waren des täglichen Bedarfs zuständig war. Ich wurde dann als kleiner Sachbearbeiter in der Süßwarenabteilung übernommen. Kein Traumjob, aber zumindest kam ich mit den Kollegen zurecht und die mit mir.
Doch das Verderben wartete schon: die Einberufung zum Grundwehrdienst bei der „Nationalen Volksarmee“. Um die Rolle des „Ehrendienstes“ bei den „bewaffneten Organen“ für Jungen rankten sich viele Legenden. Die wichtigste: Nur wer sich freiwillig wenigstens für drei Jahre verpflichtete, bekäme einen Studienplatz. Ich hatte zwar noch immer keine Vorstellung, WAS ich eventuell studieren könnte, aber dass ich das irgendwann tun würde, wollte ich mir nicht verbauen. Aber dafür zur Armee?! Eher nicht! Also begann ich die Pflicht-Dienstzeit mit der Absicht nicht aufzufallen. Stattdessen leistete ich mir erst einen kleinen Unfall und sorgte dann mit regelmäßigen Fingern im Rachen für Erbrechen. Schließlich wurde ich nach einem halben Jahr ins zivile Leben entlassen. Problem: Ich war nun ein Jahr zu früh in Freiheit. Der Betrieb musste mich zwar wieder aufnehmen (so war das halt in der DDR), aber der Platz in meiner Abteilung war besetzt. Der einzige freie im Betrieb war einer in der Kosmetik-Reklamationsabteilung. Klar, dass ich so schnell wie möglich irgendwo anders hin wollte. Ich ahnte noch nicht, welche psychischen Schäden die Armeezeit hinterlassen hatte und wie lange die Schreibblockade anhalten würde, also nahm ich noch einen Anlauf in Richtung Schreiben … Dass ich als „kulturpolitisch-künstlerischer Mitarbeiter für künstlerisches Wort beim Kreiskabinett für Kulturarbeit“ alles besonders gut machen wollte, ahnst du wohl schon. So wurde der Ausflug in die Welt der Kulturorganisation natürlich zum Fiasko. Gleich der erste Auftritt bei einer höheren Charge im Kreis, konkret beim Direktor des einzigen Gymnasiums, misslang und führte zu einer handfesten Beschwerde. Ich wäre ihm, einem angesehenen Leiter, überheblich gekommen, hätte ihn beleidigt, er mache nicht genug zur Förderung der Begabung seiner Schüler … so in dem Sinn. Meine Vorgesetzte zog daraus den Schluss, dass ich wohl doch etwas zu grün für die Aufgabe wäre und mir lieber Praxis in einem Produktionsbetrieb holen solle. Heute wäre dies ein Rauswurf in der Probezeit gewesen, damals gönnte man mir etwa ein halbes Jahr, mir etwas Geeignetes zu suchen. Diese Zeit verbrachte ich überwiegend mit Basisarbeit bei Schreibenden und Laienkabarettisten in Betrieben und mit der Erarbeitung von Muster-Programmen zu allen möglichen Fest- und Gedenktagen. Ein besonderes Vergnügen bereitete es mir, zum „Tag der Nationalen Volksarmee“ ein expressiv antimilitaristisches Programm zu verbreiten. Besondere Genugtuung: Nun kamen Danksagungen aus mehreren Betrieben im Kreiskabinett an. Wahrscheinlich hatte man nichts als trockene Lobhudeleien erwartet.

Nach dieser Erfahrung landete ich in einem der Schweriner Großbetriebe. ORSTA Hydraulik war innerhalb eines „Kombinats“ der Endfertigungsbetrieb für große hydraulische Anlagen. Ich wurde in der Materialwirtschaft eingesetzt. Eine hydraulische Anlage besteht im Wesentlichen aus drei Grundelementen: einem Motor, einer Pumpe und Zubehör. Ich war zuständig für bestimmte Zubehörteile, namentlich Hydraulikventile und Verschraubungen. Vielleicht nicht gerade die Perspektive, von der aus eine Volkswirtschaft zu erklären ist, aber meine ...
Es gab natürlich einen spezifizierten Plan, welche Aggregate wann in welcher Zahl zusammenzubauen gewesen wären, welche Einzelteile und Baugruppen also pünktlich hätten zur Verfügung stehen müssen. Antworten auf die Frage, warum die benötigten Aggregate jeweils nicht zur Verfügung standen, drangen nicht bis auf meine Ebene herunter. Dass sie nie so ankamen, wie ursprünglich geplant, merkte jeder. Da dann permanent versucht wurde, einen korrigierten Plan vorzulegen, der eventuell umsetzbar gewesen wäre, gab es im Laufe der Zeit bald niemanden im Betrieb, der die anfängliche Planung noch ernst nahm. Letztlich lief alles darauf hinaus, gegen Ende der Monate an die Zahlenfront zu werfen, was dann wirklich montierbar war. In diesem Chaos spielte meine Abteilung eine eher untergeordnete Rolle. Jeder sah ein, dass kein Aggregat ohne die passende Pumpe und ihren Motor entstehen konnte. Wenn dann zu erahnen war, welches Aggregat Chancen hatte, tatsächlich noch im laufenden Monat gebaut zu werden, galt es, irgendwie auch noch den Kleinkram dazu zu besorgen.
Nun hat so eine „Planung“ Konsequenzen: Die unmittelbare Montage sollte jeweils dann beginnen, wenn alle zu montierenden Teile am Montageplatz vorlagen … EIGENTLICH eine sinnvolle Vorgehensweise. Zur detaillierten Planerfüllung gehörte auch, die Kleinteile nach dem Ausgangsplan aus dem Lager in die Montage zu bringen. Gelegentlich geschah dies auch. Im seltensten Fall wurde ja aber wirklich nach dem Ursprungsplan produziert. Wer also gut gearbeitet hatte, musste doppelt arbeiten, weil die planmäßigen, aber unter den neuen Vorgaben nicht verwendbaren Teile nun der tatsächlichen Fertigung im Weg waren. Das Ergebnis bei den Lagerarbeitern war eine pervertierte Form von Dienst nach Vorschrift: Sie rührten nichts mehr an, wovon sie nicht wussten, dass auch die anderen Bauelemente vollständig vorlagen. Da diese Bedingung mindestens an den ersten 22 Tagen jedes Monats fast nie erfüllt war, rührte sich in meinem Lagerbereich in dieser Zeit so gut wie nichts. Da es aber ausgeschlossen war, drei Wochen hintereinander tatsächlich NICHTS zu tun, wurde saufend und Karten spielend beieinandergesessen. Dieses System hatte weitere für die Lagerarbeiter angenehme Nebeneffekte: An den letzten Tagen der Monate „brannte die Luft“: Da musste all das bis dahin Versäumte mit den nun tatsächlich vorhandenen Teilen nachgeholt werden. Denn letztlich sollten die Pläne ja sogar übererfüllt werden. (Irgendwelche sind es auch offiziell.) Das war nun in regulärer Arbeitszeit nicht zu bewältigen. Da wurden Sonderzahlungen lockergemacht, nur damit sich die Arbeiter an Wochenenden im Betrieb sehen ließen – neben den „normalen“ Zuschlägen, versteht sich.
Diese Situation war der Normalzustand, als ich meine Arbeit im Produktionsbetrieb aufnahm. Naiv wie ich war, versuchte ich umzusetzen, was ich umsetzen sollte. Stieß auf lauter Unmöglichkeiten. Musste, um etwas (oder jemanden) zu bewegen, die Arbeiter mit Wodka ködern. Vieles wurde auf dieser Basis möglich. Von Abteilungsleitern aufwärts war „unten“ niemand zu sehen. Man könnte meine Eindrücke „Kulturschock“ nennen. Irgendwie verging mir beim Anblick der die Arbeitszeit totsaufenden Kollegen die Illusion von der Arbeiterklasse an der Macht und vom „Volkseigentum“ … Sahen so „Eigentümer“ aus? Angetrunkene in Erwartung des nächsten „Schicksalsschlages“ namens „Plankorrektur“?!
Wie gesagt, ich brachte den „Lunikoff“ mit, wenn ich etwas wollte, und die Arbeiter, überwiegend junge Leute, kümmerten sich dann um „mein“ Problem. Dass wir voneinander nicht besonders viel hielten, verheimlichten wir nicht, aber der „Sesselfurzer“ kümmerte sich eben und das würdigten sie auf ihre Weise …
Schon beim zweiten Mal war ich gefordert, wenigstens mit anzustoßen. Trotz aller Vorbehalte gegeneinander kamen bald Gespräche zustande. Eines dieser Gespräche drehte sich um Verschraubungen für Ventile, von denen bei mir buchtechnisch viele vorrätig waren, von denen die Arbeiter aber behaupteten, sie seien alle. Nach einigem Hin und Her stellte sich heraus, dass die Gesuchten bei einem der Aggregate vor der Montage gegen die Originalverschraubungen ausgetauscht wurden. Die laut Plan vorgesehenen passten nämlich nicht. Je länger wir uns unterhielten, umso spannender wurde die Angelegenheit. Konnte es sein, dass da irgendwo ein Fehler vorlag?
Es lag einer vor. Der war, wie´s aussah, bereits bei der Projektierung entstanden. Plötzlich ahnten wir, dass wir sowohl Arbeitszeit als auch Material einsparen konnten. (Die abmontierten nicht passenden Verschraubungen wurden bisher als Abfall behandelt.) Da es weder leicht war, den schuldigen Punkt zu finden noch fachgerecht zu formulieren, wo was verändert werden musste, wuchs eine kleine Forschungsgemeinschaft zusammen. Dieselben Menschen, die während der ganzen vorangegangenen Zeit sich eigentlich als gesellschaftliche Schmarotzer aufgeführt hatten, empfanden sich plötzlich als Miteigentümer, die selbstverständlich sparsam mit „ihrem“ Volkseigentum umgehen wollten. Man erkannte sie kaum wieder. Aus den Säufern wurde eine Jugendbrigade. Plötzlich ging es um „uns“ - unseren Staat, unsere Gesellschaft, etwas, was wir verbessern konnten. Eine für mich unglaublich erscheinende Wandlung. Thor, wenn ich es nicht miterlebt hätte, ich hätte es nicht geglaubt.

Nun ja, die Angelegenheit geriet „natürlich“ später in die Fänge sozialistischer Bürokratie. Plötzlich hatte das „Büro für Neuererwesen“ etwas Reales zu tun. Und zwar etwas, was dem Ideal des Staates sehr nahe kam - hatten sich doch tatsächlich richtige Arbeiter mit Angestellten und Angehörigen der Intelligenz zusammengefunden, um einen Arbeitsablauf zu verbessern! „Leider“ nur spontan. Von nun an sollte alles einen planmäßigen Rahmen bekommen. Wir sollten gezielt und geplant Verbesserungen erarbeiten. Wir erstellten auch tatsächlich ein Jugendobjekt. Allerdings bestand dessen Hauptkreativität in der Fixierung eines Nutzens, der nie eintreten konnte. Ich weiß nicht, wie klar das den Einzelnen war, aber mir begann die Sache peinlich zu werden. Die planorganisierte Nützlichkeit verwandelte sich in eine Form des Sich-in-die-Taschen-Lügens. Ich suchte im Unterbewusstsein bereits eine Fluchtmöglichkeit. Es war nur vorübergehend ein Keim aufgegangen. So wäre unsere Gesellschaft geworden …

Zu jener Zeit war ich mit einer Abiturientin aus Berlin zusammen. Die hatte außer vielleicht am „Unterrichtstag in der sozialistischen Produktion“ noch nie einen Arbeiter in Natur gesehen (Der Vater war Mediziner und Edelgrundstücksbesitzer, die Mutter Hausfrau). Aber aus dem Staatsbürgerkunde-Unterricht nach Lehrbuch „wusste“ sie, was und wie die Arbeiterklasse war – und demzufolge nicht sein konnte – und zum anderen war ihr klar, dass jemand, der behauptete, so etwas Unmögliches erlebt zu haben wie ich, nur ein Klassenfeind sein konnte. Nun war ich immer sehr kritisch gewesen. Dass mir aber meine Bettgefährtin, die keine Ahnung hatte, nicht nur erklären wollte, was ich erlebt haben konnte (und was nicht), sondern auch, dass ich ein „Klassenfeind“ war, reizte meinen Widerspruch. Ich nicht auf der Seite des Sozialismus?! Du wirst schon sehen! Vielleicht bin ich bald selbst Staatsbürgerkundelehrer – ich weiß dann wenigstens, wovon ich spreche. Sie zeigte mir einen Vogel – hätt ich an ihrer Stelle wohl auch. Aber ich meinte das spontan Gesagte ernst. Gleich in der nächsten Woche lauerte ich am Arbeitsplatz auf eine Gelegenheit, allein das Telefon benutzen zu können. Die Nummer der Hochschule, die die von mir angestrebte Fachkombination Deutsch und Staatsbürgerkunde anbot, hatte ich mir bereits herausgesucht. Kaum war ich ungestört, erkundete ich mich dort, ob noch ein Platz frei sei. Deutsch / Staatsbürgerkunde nicht, aber Staatsbürgerkunde / Deutsch, bekam ich zur Antwort. Na gut, nehm ich. Was muss ich denn tun? Einen Antrag ausfüllen und zum Arzt und man schicke mir alle Formulare zu.
Das war im August. Im September desselben Jahres (!) begann ich mein Lehrerstudium. Die anderen Studenten hatten sich natürlich ein Jahr früher beworben und waren im Mai bereits zu einem Jugendlager zusammengetroffen.
Die Eile enthielt auch einen Bumerang, der später auf mich zurückfiel: Jeder zukünftige Lehrer wurde planmäßig gründlich unter anderem vom Hals-, Nasen- und Ohrenarzt untersucht, nicht nur, aber auch auf die Eignung der Stimmbänder. Die waren aufgrund eines Bronchialinfekts bei mir in jenem August nicht zu begutachten. Der Arzt schrieb also, dass er keinen Befund erstellen könne. Während des Studiums stellte sich dann heraus, dass ich unter normalen Bedingungen nicht zugelassen worden wäre. Aber da ich nun einmal schon dabei war und ja wollte, konnte ich weitermachen.
Wenn ich heute von den vielen Bespitzelungen höre, muss ich laut lachen: So schnell, wie in meinem Fall eine absolut unbürokratische Lösung möglich gemacht worden war, war damals technisch keine Akte anzufordern und zu sichten. Selbst hier, wo sich im Nachhinein eigentlich die spontane Entscheidung als Fehler herausstellte, war sie etwas Positives.
Darf man mir verübeln, dass ich das vergnüglich fand? Aus einer spontanen Tageslaune heraus landete ich auf einem Pädagogenplatz – und noch dazu auf dem des Rotlichtbestrahlers für unschuldige Kinder. Ja, so anarchisch habe ich Staatsbürgerkundelehrer werden können. Und mir ist nie ein „Stasi“-Schlapphut mit dem Wunsch nach einer „Verpflichtung“ begegnet (aus anderen Gründen auch nicht) – ich war damals nicht einmal Mitglied oder „Kandidat“ der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Das war nicht Bedingung. Später habe ich mich darum bemüht. Das war schwierig. Ich nahm es allerdings auch ernst mit der Auswahl meiner Bürgen. Ich hatte meine Freiheit voll ausgereizt und erwartete nicht von vornherein, dass man ausgerechnet mir Vertrauen entgegenbrächte – brachte man aber.

Während wir bei der praktischen Ausgestaltung des Studiums und im Ausreizen unserer Meinungsbildung in der „Sektion Marxismus-Leninismus“ große Freiheiten genossen, beobachteten wir bei den Studenten der Geschichtssektion Anderes. Dort wurde schulmäßig gegängelt. Viele der Gedankengänge, mit denen uns unsere Professoren „bearbeiteten“, hätten nach heute üblichem DDR-Bild deren sofortiges Verschwinden in „Stasi-Knästen“ zur Folge haben müssen.
Einzig die „Freiheit“ zum Drogen“konsum“ hatten wir nicht – ich glaube aber nicht, dass mir da etwas entgangen sein könnte – mit Alkohol wurde die „Erfahrungslücke“ ausgefüllt. Klar wäre ich gern auch einmal durch die andere Hälfte der Welt gereist, aber mit offenen Augen durch die Länder des Ostens zu reisen war zumindest bereichernder, als sich an fernen Küsten zuzuballermannen.
Für meinen Gesamtweg war dann ein anderer Bruch Ausschlag gebend: Klar, ich konnte mich hinter den Stimmbändern verstecken. Aber wahrscheinlich wäre ich nie ein guter Lehrer geworden. Was den Umgang mit Schülern anging, bin ich eben eher „Coach“ oder Geistes-“Trainer“ für interessierte Gruppen als ein Massen dressierender Lehrer. An der ersten Einsatzschule nach dem Studium war ich aber der einzige Staatsbürgerkundelehrer. Ich hatte alle Schüler der Schule in dem Fach zu unterrichten, ohne sie je kennen gelernt zu haben. Vielleicht hätte man mir meine „Anfangsprobleme“ kameradschaftlich verziehen. Aber eine Kollision mit der Parteisekretärin der Schule brachte das Ende. Meine scharf antimilitaristischen Auffassungen, die natürlich auch nicht vor menschenfeindlichen Umgangsformen innerhalb der NVA Halt machten, stießen bei der „150prozentigen“ Genossin, deren beide Söhne begeisterte Offiziere waren, auf „machtvolle“ Ablehnung. So etwas wie mich konnte man nicht auf sich erst entwickelnde Persönlichkeiten loslassen. Als sich mein Scheitern immer klarer abzeichnete, schien mir die Konsequenz klar: Ich war im Kreis der Versager gelandet. Meiner damaligen Partnerin (und späteren Ehefrau) verdankte ich die Chuzpe, mich trotzdem auch für Aufgaben zu bewerben, die anspruchsvoller als die eines Lehrers erschienen. Ich wollte und ich bekam erneut eine Chance. Ohne recht zu ahnen, was mich erwartete, landete ich im Bildungsbereich eines Außenhandelsbetriebes, aber davon erzähle ich später weiter. Wir wollten ja gedanklich ein paar Bereiche des praktischen „gesellschaftlichen“ Lebens durchspielen. Und bitte komm mir nicht wieder mit der Versorgung im Einzelhandel. Das hängt mir zum Hals raus: Auf der einen Seite der Mangel und und auf der anderen die vollen Schaufenster. …Aber okay, wer die DDR erlebt hat, weiß, dass dort selbst mit Wartezeiten auf einen neuen PKW schwarz gehandelt wurde, der Preis für gebrauchte teilweise weit über dem für Neuwagen lag (weil er eben den Wartezeitbonus enthielt) und dass außerhalb der Hauptstadt der Erwerb vieler relativ „normaler“ Lebensmittel ein Glücksfall war ...
... 

Ohne den DDR-Staat abzulehnen (allerdings auch nicht kritiklos anzunehmen), fand ich eine Nische genau für mich. Nur hatte mein „Nischendasein“ Formen, die nicht nur ihrer Zeit weit voraus waren, sondern heute schwer vorstellbar sind. Gut … Die Abteilung war in wechselnden Wohnungen untergebracht, also nicht auf dem Betriebsgelände. Die Kollegen hatten alle gut voneinander abgegrenzte Verantwortungsbereiche. Der Abteilungsleiter schirmte uns vertrauensvoll ab. Insoweit waren die organisatorischen Voraussetzungen für hohe Eigenständigkeit günstig.
Meine Aufgabe war eine Dienstleistung für das Kombinat. Der Außenhandelsbetrieb war zuständig für die Tätigkeit aller Kombinatsbetriebe im Ausland. Alle diese „Reise- und Auslandskader“ hatten vor ihrer ersten Auslandsdienstreise (und dann rhythmisch) einen Lehrgang zu absolvieren. Was dort Gegenstand sein sollte, war in allgemeinen Ministeriumsplänen festgehalten. Allerdings waren die genau genommen ein geballtes Gesamtstudium Außenwirtschaft, Weltanschauung und Menschenqualität / Benehmen in der Öffentlichkeit in einem. Also so weit gefasst, dass auf jeden Fall vom großen Plan abgewichen, sprich: gestrichen werden musste. Was das war, blieb den Bedingungen vor Ort überlassen. Ich hatte die tatsächlichen Lehrgänge zu planen und diese Planung praktisch umzusetzen. Dabei hatte ich freie Hand, woher ich welche Dozenten gewann (aufs Inland beschränkt). Es wäre überhaupt nicht aufgefallen, hätte ich einige Tage nur Privatangelegenheiten erledigt. Da wäre ich eben auf Dozentensuche gewesen.
Das Maß an Kreativität bei der Arbeit war sehr hoch. Ich hätte zwar auch ohne anzuecken etwas „zum Abhaken“ machen können, aber gerade weil ich es selbst wollte, jagte ich laufend Verbesserungen hinterher. Seltsamerweise schlug das besonders die schwächsten Glieder der Abteilung in den Bann. Wir „Verantwortungsträger“ teilten uns nämlich eine Sachbearbeiterin / Schreibkraft, die nach Bedarf für jeden von uns Hilfsarbeiten zu erbringen hatte. Die erste war aber oft in Gedanken (und mindestens am Telefonhörer) beim Bändigen ihrer pubertierenden Tochter (sie war allein erziehend) – also „abwesend“. Ihr Ruf war demzufolge wenig berauschend: Faul, quatscht viel, hat von nichts Ahnung … usw.
Ich war nicht ihr „Chef“. Aber ich nutzte sie zum Ideentest und für organisatorische Aufgaben sehr komplexer Art. Ergebnis: Sie blühte allmählich auf. Sie entwickelte Vergnügen an der (Mit-)Lösung von Problemen, die nicht von vornherein lösbar schienen. Sie brachte sich in immer beeindruckenderem Umfang in die Arbeit ein. Schließlich wuchs in ihr Stolz darauf, was WIR geschafft hatten. Bei ihrer jüngeren Nachfolgerin war dies noch stärker. Während sie von den Anderen behandelt wurde wie jemand, von dem man wenig hielt, konnte sie sich neben mir voll entfalten. Abgesehen davon, dass sie durchaus intelligent war, verstanden wir uns gut zu ergänzen. Über ihre weiblich charmanten Umgangsformen verfügte ich nun mal nicht – jeder zog aus dem Anderen die größten Nutzeffekte, zusammen erreichten wir ein Niveau, auf das wir uns einiges einbilden konnten und das jeder für sich allein nie erreicht hätte.
Beide Sachbearbeiterinnen wuchsen über sich hinaus, indem sie fast selbständig gestellte Aufgaben lösten … im Gefühl, dass eine schwierige Aufgabe von ihnen (mit) gelöst werden würde, weil genau sie das ihrer ganz persönlichen Qualitäten wegen lösten. An sich Banalitäten. Aber es kann schon beeindrucken, wie weit Menschen über ihren Schatten springen können, wenn die Rahmenbedingungen dafür stimmen. Bei beiden Kolleginnen war die unterschwellige Verachtung, die ihnen meist entgegengebracht worden war, nicht von vornherein unberechtigt. Beide aber entfalteten eigene Qualitäten, sobald die als wertvoll angenommen wurden.

...
Es war im Anschluss an mein Studium und begann mit einem für mich typischen Reinfall. Im Frühsommer wurde ich mit einer Studentin verkuppelt, die ihre Semesterferien bereits verplant hatte. Ohne meine körperlichen Probleme zu berücksichtigen, stimmte ich spontan zu, mit ihr und ihren Freunden durch die rumänischen Karpaten zu wandern. Einfach Rucksack gepackt und los. Bei den ersten Beanspruchungen meiner Knie wurde dann deutlich: Es ging nicht. Alleine zurück? Liane hatte den rettenden Einfall. Wir trennten uns von den Anderen und zu zweit begann eine Tour, bei der ich nicht sagen kann, ob sie sich heute irgendwo auf der Erde wiederholen ließe ...

Unsere Route kann ich nicht beschreiben. Wir haben keine „offiziellen“ Stationen gemacht, also irgendetwas Hotelartiges aufgesucht, sind getrampt ohne konkretes Ziel. Höchstens: In der Gegend gab es viele Leute, die Deutsch sprachen. Solche Leute wollten wir finden, bei ihnen übernachten, uns unterhalten und Vorschläge bekommen, was wir als Nächstes ansehen sollten. Es gab keine Kontaktprobleme und kaum jemand fuhr an uns vorbei, ohne zu halten und nach unserem Ziel zu fragen. Die Freundlichkeit war allgegenwärtig, beschränkte sich nicht auf die Solidarität der sich verfolgt fühlenden deutschen Minderheit. Das war Erlebnis eins: Wir wurden laufend durch Gemeinschaften gereicht, die alle bedingungslos offen und herzlich zu uns waren, etwas gaben ohne Gegenleistung. Für einen Deutschlehrer war natürlich die Begegnung mit Menschen, die ein „Deutsch“ von vor 150/200 Jahren sprachen, ein Erlebnis für sich. Gerade die Assimilierungspolitik unter Ceausescu förderte als Anti-Haltung das Festhalten an überlieferten Traditionen. (Insoweit kann ich heute die „Migranten“ in Deutschland leichter verstehen, dass sie sich nicht in Deutsche dritter Klasse umwandeln lassen wollen.)
In einem abgelegenen Dorf geschah es dann. Wir waren ein Stück fröhlich in Richtung Ortsausgang gelaufen. Da überraschte uns ein Gewitterguss. Der Regen kam schneller, als ich das aufschreiben kann, und mit urwüchsiger Kraft. Vom nächsten Grundstück war eigentlich nur ein Rasenstück mit Baum zu erkennen. Liane reagierte und dirigierte schneller, als ich denken konnte. Ehe ich mich versah, hatten wir unser Zelt aufgebaut und waren darin dabei, uns aus den nassen Sachen zu schälen. Da hob sich die Plane am Eingang. Ein Frauengesicht tauchte auf. So wie zuvor vom Regen wurden wir nun von Schimpfworten überschüttet. Wir verstanden nur, dass die Frau Rumänisch sprach und unsere Versuche, auf Deutsch oder Englisch zu antworten, ignorierte. Nein: Wir verstanden noch, dass wir weg sollten. Wollte die Frau uns von ihrem Privatgrundstück vertreiben? Was wir uns einbildeten, ohne zu fragen darauf zu zelten? Sie war ausdauernd und trieb uns ins Haus, das wir bei dem dichten Regen zuvor nicht gesehen hatten. Wir wurden in ein Zimmer mit Doppelbett und vielen Handtüchern eingewiesen und … kaum getrocknet hatten wir der „Hausherrin“ zu folgen.
In der „guten Stube“ empfing uns „die Familie“, die im Laufe des Nachmittags und Abends immer weiter anschwoll. Was sich da ereignete, war höchstens mit einer großen Hochzeitsfeier vergleichbar. Die Rumänen lebten zu dieser Zeit und in dieser Gegend extrem ärmlich. Auf der Festtafel vor uns aber mangelte es an nichts. Immer wieder wurden wir genötigt, das und das und das zu probieren. Jemand, mit dem wir uns hätten sprachlich verständigen können, fand sich nicht. Uns zu Ehren (?!) wurde ein Fest wie für Staatsgäste inszeniert, das in der Menge des Aufgetragenen wohl das Monatseinkommen der Anwesenden überstieg. Übersättigt und stark angetrunken sanken wir letztlich irgendwann in unsere Himmelbetten. (Wir waren im Schlafzimmer der Hausherren gelandet ... merkten wir später.)
Wir wurden am folgenden Vormittag verabschiedet wie gute alte Freunde – wenn auch in der Gewissheit, dass wir einander nie wieder sehen würden. Der Schock kam, als wir Mittagsrast machen wollten. Da stellte sich nämlich heraus, dass „jemand“ uns außer Fresspaketen noch Bierflaschen in die Rucksäcke gesteckt hatte. Dazu musst du wissen, dass Bier in jener Gegend nicht nur extrem teuer, sondern auch selten gewesen war. Das hatten die Leute nicht einfach so in ihrem nicht vorhandenen Kühlschrank. Der heimliche Beschenker war deshalb zurecht davon ausgegangen, dass wir diese Gabe nicht angenommen hätten, aber Bier eben das Getränk für Deutsche war.
Ich kann nicht einmal sagen, ob wir wenigstens auf Rumänisch „Danke!“ für die Gastfreundschaft gesagt hatten … (Zumindest den von den Anderen verwendeten Abschiedsgruß haben wir imitiert.)
Ich gebe zu, ich wäre zu einer solch vorbehaltlosen Form der Gastfreundschaft Fremden gegenüber nicht fähig. Allerdings die Freude an der Feier konnten wir mitempfinden. Und wir erahnten zumindest das spitzbübische Vergnügen der Einheimischen bei der Vorstellung, mit welcher Verwunderung wir die heimliche Gabe entdecken würden. Nach unseren Maßstäben war diese unschuldige Freude allerdings extrem teuer „erkauft“.
Viel später wurde mir bewusst, dass wir eine Art „Potlatch“ erlebt hatten. Logisch, dass ich mich damit dann näher beschäftigte – ganz davon abgesehen, dass den Heranwachsenden in der DDR ein Stück Indianer-Romantik nahe gebracht worden war - wohl so wie im Westen die Simulation des freien Lebens als Cowboy. Man nimmt bestimmte Werte unbewusst auf. Und die DDR-Indianerfilme (zumindest die ersten) waren sehenswert.

Ich breche die Reisen in eigenes Erleben hier ab. Vielleicht ahnst du bis hier, welches Denken in der DDR entstehen konnte (wenn auch erst selten). Es waren nur ferne Vorboten dessen, was wir dann doch nicht geschafft haben.
Ach Thor, nun habe ich dich gnadenlos mit Ideologie beschossen. Es freut mich zwar, dass du dich so diplomatisch bedankt hast, aber … Weißt du, eigentlich war alles nur ein überlanger Entschuldigungszettel: Ich habe ja in der DDR gelebt und bin nicht blind herumgelaufen. Ich kann zwar darauf verweisen, dass ich oft widersprochen habe, mich bemüht habe, auf Mängel in unserem System hinzuweisen. Aber eben nicht bis zur letzten Konsequenz, nicht genug. Ich habe mich eingerichtet und wäre jetzt vielleicht ein selbstgefälliger Doktor der Pädagogik, der über Verifizierung von Methoden der Kenntnisvermittlung in der Erwachsenenqualifizierung seine Eitelkeit befriedigte. Damit mitschuldig am Scheitern eines Anlaufs für eine gute und nötige Sache. Ich möchte nicht, dass es dir später einmal genauso geht, dass du dir heimlich sagst, du hättest mehr tun müssen und können und nun fliegst du im freien Fall in den Abgrund und es ist zu spät. So richtig alt bin ich ja noch nicht. So hoffe ich einfach, dass das nicht das Ende, sondern der Anfang unseres Kontakts ist und du jetzt noch mehr Fragen hast als vorher. Dann hätte ich nämlich erreicht, was ich wollte ...

seitensprung

ich habe bei der 
gewissheit gelegen
sie verließ mich
geschwängert 
mit fragen  
ewig zahle ich
unterhalt für mein
aber




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