Mittwoch, 8. Juni 2011

1. Abschnitt: Wie ich trotz und wegen der DDR zu meinem ganz individuellen Kommunismus fand (2)

Allerdings war dieses erste Dorfschuljahr auf der anderen Seite zutiefst demütigend: Gestartet mit der Empfehlung der Dorfweisen, die ersten Schuljahre wegen Unterforderung zu überspringen und gleich mit Klasse 4 zu beginnen, erlebte ich eigene Unfähigkeiten besonders schmerzhaft. In Sport war ich nicht gut, in Fächern, die ein Minimaß an handwerklichem Geschick voraussetzten, war ich etwa so sehr Untermaß wie im Rechnen (noch) Übermaß. Dies wurde durch einen pädagogischen Tiefschlag noch potenziert: Genetisch war (bin) ich Linkshänder. In den ersten Schulwochen litt ich extrem. Ständig wurde ich darauf hingewiesen, doch bitte die „richtige“ Hand zu benutzen. Irgendwann hatte ich gelernt, der Lehrerin an den Augen abzulesen, dass ich meinen Stift gerade in der „falschen“ Hand hielt. Allmählich schrieb ich überwiegend mit rechts. Lange konnte ich allerdings rechts und links nicht unterscheiden und ich habe es nie geschafft, wenigstens 50 Prozent der Schreibgeschwindigkeit meiner Mitschüler zu erreichen und meine „Handschrift“ blieb eine Zumutung für alle, die etwas von mir Geschriebenes lesen mussten.
Die Krone der Demütigung erlebte ich am Ende des ersten Schulhalbjahres. Die Lehrerin ließ uns in der Reihenfolge unseres Gesamtzensurendurchschnitts antreten. Ich Wunderkind war dabei nur Siebenter.
Nicht unwichtig mochte für meine „spezifisch kommunistische“ Persönlichkeit noch gewesen sein, dass ich nach der abgebrochenen Kindergartenzeit allein zu Hause auf die Rückkehr meiner Mutter von ihrem Halbtagsjob warten musste. Grübelnd, beobachtend und … lesend. Ich entwickelte mich zu einem Außenseiter, Beobachter und Gerechtigkeitsfanatiker, wobei gerecht war, was ich richtig fand.
Keine Ahnung, wie ich geworden wäre, wäre meine Familie nicht im Frühjahr vor Abschluss der ersten Klasse in die Stadt gezogen. Nun konnte ich von meinem Fenster aus auf den Schulhof, altehrwürdige Kastanienbäume und ein Schulgebäude von 1892 sehen – auf einen Backsteinbau, ziegelrot und massig wie eine Festung oder Kaserne. Das wichtigste Gefühl meinen potentiellen künftigen Mitschülern gegenüber war am Anfang nackte Angst. Um keinen Preis wollte ich aber so isoliert bleiben wie zuvor.
Die Rolle des Chefs war vergeben, die des Klassenkaspers frei, und wenigstens in den folgenden drei Jahren füllte ich sie fantasievoll aus. Den Unterricht zu stören fiel mir nicht schwer und die dümmsten Kinderwitze verwandelten sich in meinem Mund in lange Geschichten.
Diese Rolle hatte mehrere „Vorteile“. Ein Stück Aufmerksamkeit behielt ich und beim großen Mitschülermobbing konnte ich zusehen. Das Hauptopfer war über viele Monate ein Mädchen, das durch ihren Geruch und ihre staksigen Bewegungen am meisten auffiel und das Hinundherschubsen dadurch vergnüglicher machte, dass sie so herrlich quäkte, Angst zeigte und „Was hab ich euch getan?“ oder „Lasst mich doch in Ruhe!“ jaulte. Dem Zugriff der Lehrer entzog sich der Terror dadurch, dass „Erdnuss“ erst nach Schulschluss und draußen vor dem Schulgebäude gequält wurde. Ihr Pech war, dass der Hofausgang neben der Haupttür lag, sodass sie nicht ungesehen die Schule verlassen konnte – und immer waren welche vor ihr da, um die sich dann die anderen Wartenden sammelten.
Es hätte natürlich niemand zugegeben und irgendwie war es erst so etwas wie ein Triumph, als das Mädchen aus der Schule genommen wurde und in einer „Hilfsschule“ bis zu Klasse 6 kam, aber im Unterbewusstsein einiger Mitschüler wuchs doch das Gefühl, dass wir das Leben eines Menschen zerstört hatten, der uns wirklich nichts getan hatte. (Und in meinem Unterbewusstsein prägte es das dauernd schlechte Gewissen, dass ich lachend dabei gestanden hatte.)

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