Donnerstag, 16. Juni 2011

1. Abschnitt: Wie ich trotz und wegen der DDR ... (10)

Nachher erfuhr ich, dass einige der so eifrig engagierten Autoren für das Ministerium für Staatssicherheit Berichte geschrieben haben. Sie hatten viele zu schreiben gehabt über uns. Nein. Ich finde es nicht gut. Menschlich traurig. Aber bei denen, von denen ich es hörte und die ich selbst erlebt hatte, wusste ich: Aus niederen Beweggründen, z. B. weil sie einen „Job“ machten, haben sie es nicht getan. Sie waren wirklich überzeugt, mit ihrem Tun dem „Sozialismus“ zu nutzen. Dass sie ihm letztlich eher schadeten, hätte ich damals nicht verstanden.
Aber zwei Erlebnisse brachte meine „normale“ Schulzeit noch, die mein Menschenbild nachhaltig veränderten.
Bis zur 8. Klasse hatten wir eine außergewöhnliche Mitschülerin unter uns, die dann in die „erweiterte Oberschule“ wechselte, also das, was heute „Gymnasium“ heißt. Sie war „rundum“ entwickelt. Es gab also nichts, was sie nicht wenigstens gut gekonnt hätte. Sehr überwiegend sehr gut war sie, wenn auch nicht „genial“. Den besseren Jungen waren die genialischen Ausrutscher überlassen. Zwar war ich zum Beispiel ehrgeizig und wäre lieber besser gewesen. Aber irgendwie war mir klar, dass ich mich nie zeugnisrelevant wesentlich verbessern konnte. Das wäre Zufall gewesen. Mir blieb nur eine Freude: Mitschüler, die eigentlich „leistungsschwach“ waren, zu guten Leistungen zu coachen. Also sie nicht abschreiben lassen, sondern sie zu Ergebnissen zu führen, die „man“ ihnen nicht zugetraut hätte. Das Gefühl war kaum zu überbieten, wenn ich mich heimlich als „Vater“ einer guten Note Anderer fühlen konnte. Da konnte mir niemand etwas vorwerfen – Egoismus, Strebertum, was auch immer Negatives (das Gefühl, ein schlechter Mensch zu sein, verfolgte mich ständig ...)
In der Neunten trimmte ich also bei einer solchen Gelegenheit einen Mitschüler, der ein total gestörtes Verhältnis zur Mathematik hatte(wo mir noch ein „Genie“-Rest erhalten geblieben war). Nun fiel ich in dem Fach immer noch aus dem Rahmen: Extrem langsam beim Schreiben konnte ich es mir nicht leisten, die einzelnen Teilschritte zu lernen und zu verwenden – ich verwendete abgekürzte Wege, die bei „normalen“ Schülern nicht akzeptiert worden wären. Mir waren umfangreiche Lernschritte suspekt. Was also sollte ich nun dem Mitschüler erklären? Den vorgegebenen Weg Schritt für Schritt? Ich entschied mich für die logischen Gedankenfolge, die ich entwickelt hatte. Immer wieder testete ich, was davon „haften geblieben“ war. Dann gemeinsames Rechnen. Bei jedem kleinen Gedanken fragte nun er unsicher nervend „Soooo?“ Bis ich dann irgendwann erklärte, er bekäme jetzt eine Aufgabe, die er bis zum Schluss allein lösen müsse. Nachher prüften wir dann, warum eventuell was falsch sei. Mehrmals versuchte er, mich zu einem Blick auf sein Blatt zu animieren. Endlich bot er mir eine Lösung. Beim ersten Blick schrak ich zurück. 14 Schritte waren normal, er hatte sechs gebraucht, sodass ich erst rief, so ginge es nicht … Bis ich feststellte, dass er das, was ich ihm an Zusammenhängen erklärt hatte, so umgesetzt hatte, dass ein neuer Rechenweg entstanden war. Den hatte er entwickelt. Plötzlich zerfiel alle meine „genialische“ Überlegenheit. Nur Geduld war geblieben, sich einem Problem eben anders als „normal“ zu nähern. Ein „schwacher“ Schüler war also eigentlich keiner, sondern nur einer, der andere Anregungen zum Denken brauchte, als er sie üblicherweise erhielt. In diesem einen Fall hatte ich solch eine Anregung gefunden. Welch ungeheures Potential musste in den Menschen stecken, wenn man sich ihnen geduldig annahm! (Ich erlebte in der 8. Klasse noch einen Mitschüler, der schlechte Zensuren schreiben musste – seine Mutter verlangte das – damit er am Schuljahresende abgehen und Geld verdienen durfte.) Erstmals erschien mir „Leistung“ als Produkt von Zufällen und nicht als „guter“ oder „schlechter“ Schüler.

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