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Freitag, 17. Juni 2011

1. Abschnitt: Wie ich trotz und wegen der DDR ... (11)

Und am Ende der 10. Klasse gab es noch eine „Offenbarung“. Meine Klasse machte eine einwöchige Abschlussfahrt. Zufälle brachten mich dabei mit einem Schüler zusammen, von dem ich kaum mehr wusste, als dass er mehrmals nur sehr knapp die Klassenziele geschafft hatte. Wir unterhielten uns viel. Es begann mit einem Detail: Wir hatten beide begeistert die Folgen von „Raumschiff Enterprise“ im Fernsehen verschlungen. Das wäre ja so ungewöhnlich nicht gewesen. Aber beeindruckend war dann das darüber hinausgehende Wissen und Denken des Jungen, sein … philosophischer Scharfblick. Klar haben wir auch viel einfach „gesponnen“. Aber wichtiger war, dass ich erstmals bei jemandem, den ich weit unter meinem geistigen Niveau eingeordnet hatte – die ganze Schulzeit lang hatte ich das – ein geschlossenes kluges Denksystem erlebte. Eigentlich machte er sich um die Zukunft der Welt mehr Gedanken als ich und er vermochte seine Überlegungen verblüffend klar zu formulieren. Ich bekam das Gefühl, in den letzten Jahren einen Freund übersehen zu haben, weil ich mich innerlich zu sehr über ihn erhoben hatte, um ihn überhaupt zu bemerken.
Das Wichtigste für mich war die Erkenntnis, dass es extrem unterschiedliche Möglichkeiten gibt, über die ein Mensch für andere, zumindest aber für einen anderen „wertvoll“ sein kann. Schon damals begann es mir zu widerstreben, solchen „Wert“zu wichten. Warum soll jemand wegen seiner Besonderheit besser oder schlechter als ein anderer mit dessen anderer Besonderheit sein? Vor allem führten mich unsere utopischen Zeitreisen vor eine bittere Erkenntnis: Es war ein verdammt gewöhnlicher Zufall, dass ich in meine Zeit hineingeboren war und hier mit guten Zensuren brillieren konnte. Von der Herkunft nicht privilegiert graute es mir vor der Vorstellung, in einer vergangenen Zeit zur Welt gekommen zu sein. Meine Art zu denken wäre da abfällig weggewischt worden. Nur die Fähigkeit der Muskelkraft wäre gefragt gewesen. An der aber haperte es. Oder in einer vergangenen Schule. Beim Auswendiglernen war ich schwach. Ich wäre also dort ein „schlechter“ Schüler gewesen. Wer konnte mir sagen, welche Qualitäten in 100 Jahren erwünscht waren – die ich vielleicht hätte, vielleicht aber auch nicht. Mein vorzeigbares Zeugnis war also nicht objektiv, sondern dem Zufall geschuldet, dass ich Fähigkeiten zu meinen Besonderheiten hatte zählen können, die gerade erwünscht und messbar gewesen waren.
Und auch bei der Einschätzung der „Persönlichkeit“ gab es breit gefächerte Unterschiede. Wir Schüler hatten uns einen Sport daraus gemacht, in den letzten Schultagen der Jahre das Klassenbuch zu durchstöbern. Dort trug dann jeder Lehrer für jeden Schüler die „Kopfnoten“ ein: Betragen, Mitarbeit, Ordnung … Gesamtverhalten. Bei „Betragen“ erhielt ich vom Klassenlehrer Dreien oder Vieren. Nicht wenige andere Fachlehrer werteten „sehr gut“. Aber ich war doch derselbe Mensch?! (Nur eben nicht pflegeleicht und normgerecht.)
Klar war, ich fiel aus dem Raster. Dafür gab es mehrere Erklärungsmöglichkeiten: Entweder war das Raster falsch oder es war falsch, mit einem „Raster“ zu arbeiten oder … ich hätte mich endlich richtig anpassen müssen an das, was Andere von mir erwarteten. Gelegentlich versuchte ich das. Aber es ging nicht. Ich hätte mich selbst verleugnen müssen.

Donnerstag, 16. Juni 2011

1. Abschnitt: Wie ich trotz und wegen der DDR ... (10)

Nachher erfuhr ich, dass einige der so eifrig engagierten Autoren für das Ministerium für Staatssicherheit Berichte geschrieben haben. Sie hatten viele zu schreiben gehabt über uns. Nein. Ich finde es nicht gut. Menschlich traurig. Aber bei denen, von denen ich es hörte und die ich selbst erlebt hatte, wusste ich: Aus niederen Beweggründen, z. B. weil sie einen „Job“ machten, haben sie es nicht getan. Sie waren wirklich überzeugt, mit ihrem Tun dem „Sozialismus“ zu nutzen. Dass sie ihm letztlich eher schadeten, hätte ich damals nicht verstanden.
Aber zwei Erlebnisse brachte meine „normale“ Schulzeit noch, die mein Menschenbild nachhaltig veränderten.
Bis zur 8. Klasse hatten wir eine außergewöhnliche Mitschülerin unter uns, die dann in die „erweiterte Oberschule“ wechselte, also das, was heute „Gymnasium“ heißt. Sie war „rundum“ entwickelt. Es gab also nichts, was sie nicht wenigstens gut gekonnt hätte. Sehr überwiegend sehr gut war sie, wenn auch nicht „genial“. Den besseren Jungen waren die genialischen Ausrutscher überlassen. Zwar war ich zum Beispiel ehrgeizig und wäre lieber besser gewesen. Aber irgendwie war mir klar, dass ich mich nie zeugnisrelevant wesentlich verbessern konnte. Das wäre Zufall gewesen. Mir blieb nur eine Freude: Mitschüler, die eigentlich „leistungsschwach“ waren, zu guten Leistungen zu coachen. Also sie nicht abschreiben lassen, sondern sie zu Ergebnissen zu führen, die „man“ ihnen nicht zugetraut hätte. Das Gefühl war kaum zu überbieten, wenn ich mich heimlich als „Vater“ einer guten Note Anderer fühlen konnte. Da konnte mir niemand etwas vorwerfen – Egoismus, Strebertum, was auch immer Negatives (das Gefühl, ein schlechter Mensch zu sein, verfolgte mich ständig ...)
In der Neunten trimmte ich also bei einer solchen Gelegenheit einen Mitschüler, der ein total gestörtes Verhältnis zur Mathematik hatte(wo mir noch ein „Genie“-Rest erhalten geblieben war). Nun fiel ich in dem Fach immer noch aus dem Rahmen: Extrem langsam beim Schreiben konnte ich es mir nicht leisten, die einzelnen Teilschritte zu lernen und zu verwenden – ich verwendete abgekürzte Wege, die bei „normalen“ Schülern nicht akzeptiert worden wären. Mir waren umfangreiche Lernschritte suspekt. Was also sollte ich nun dem Mitschüler erklären? Den vorgegebenen Weg Schritt für Schritt? Ich entschied mich für die logischen Gedankenfolge, die ich entwickelt hatte. Immer wieder testete ich, was davon „haften geblieben“ war. Dann gemeinsames Rechnen. Bei jedem kleinen Gedanken fragte nun er unsicher nervend „Soooo?“ Bis ich dann irgendwann erklärte, er bekäme jetzt eine Aufgabe, die er bis zum Schluss allein lösen müsse. Nachher prüften wir dann, warum eventuell was falsch sei. Mehrmals versuchte er, mich zu einem Blick auf sein Blatt zu animieren. Endlich bot er mir eine Lösung. Beim ersten Blick schrak ich zurück. 14 Schritte waren normal, er hatte sechs gebraucht, sodass ich erst rief, so ginge es nicht … Bis ich feststellte, dass er das, was ich ihm an Zusammenhängen erklärt hatte, so umgesetzt hatte, dass ein neuer Rechenweg entstanden war. Den hatte er entwickelt. Plötzlich zerfiel alle meine „genialische“ Überlegenheit. Nur Geduld war geblieben, sich einem Problem eben anders als „normal“ zu nähern. Ein „schwacher“ Schüler war also eigentlich keiner, sondern nur einer, der andere Anregungen zum Denken brauchte, als er sie üblicherweise erhielt. In diesem einen Fall hatte ich solch eine Anregung gefunden. Welch ungeheures Potential musste in den Menschen stecken, wenn man sich ihnen geduldig annahm! (Ich erlebte in der 8. Klasse noch einen Mitschüler, der schlechte Zensuren schreiben musste – seine Mutter verlangte das – damit er am Schuljahresende abgehen und Geld verdienen durfte.) Erstmals erschien mir „Leistung“ als Produkt von Zufällen und nicht als „guter“ oder „schlechter“ Schüler.

Mittwoch, 15. Juni 2011

1. Abschnitt: Wie ich trotz und wegen der DDR ... (9)

Durch jene sehr wilden, individualistischen Reisen durch die Weltliteratur veränderte sich sehr unbemerkt und unterschwellig mein „Blick“. Ich war eigentlich „nur“ ein Junge, der zu viel geschmökert hatte. Zwar in keinem Karl May, aber bei Lieselotte Welskopf-Henrich, Jules Verne und überwiegend in Dingen, die nicht für einen 11-, 12jährigen gedacht waren.
Und die DDR bot in der Folgezeit besondere Chancen zur Befriedigung meines wirren Kunsthungers: Jugendstunden und Theaterkreise. Auf die Mischung kam es an. So wirr, wie ich ahnungslos vor der „Weltkultur“ stand, so gemixt wurden uns monatlich verschiedenartige Erlebnisse vermittelt. Opern, Schauspiele, Ballett, Heiteres … Das hatte einen eigenen Reiz. Nein, keinen hoch kulturellen. Da bemühte sich unsere Musiklehrerin vergeblich um eine vielleicht angemessene Einführung. Aber die ganze Klasse ging gerne auch in Kunstgenüsse, die sie kaum verstand, denn was hätte es für einen besseren Vorwand gegeben, abends „die Sau raus lassen“ zu dürfen? Nicht jedem wäre mit 14 erlaubt worden, nach 22 Uhr durch die Straßen zu ziehen. Aber nach dem Theater …
Wie viel es bei den Einzelnen Positives bewirkt hat – wer vermag das einzuschätzen? Aber jeder hatte die Chance, seine Sinne zu schulen. Und das Staatstheater war gut. Dass dies in irgendeine Weise ein „soziales“ Problem sein könnte (außer im Sinne unseres Gruppenzusammenhalts), wäre keinem eingefallen. Die Eintrittskarten kosteten kaum mehr als ihr Druck gekostet hatte …
Dann setzte meine erste „Schreibphase“ ein. Der Junge wollte Gedichte verfassen. Sehr weise, das Wesen der Welt erklärend und so hölzern holpernd, dass wirklich nur ich selbst von mir überzeugt sein konnte. Aber es gab die verschiedensten Fördermöglichkeiten. Zwar war es natürlich schon komisch, in einem Zirkel schreibender Arbeiter der deutschen Post dabei zu sein, in dem kaum ein Mitglied etwas mit der Post zu tun hatte. Aber ich konnte verschiedene Denk- und Betrachtungsweisen beobachten. Heute bestreitet die Leiterin des Zirkels schreibender FDJler beim Haus der Jugend (jede Einrichtung, die etwas auf sich hielt, förderte verschiedene kulturelle Aktivitäten), dass sie sooo laut ihre Begeisterung geäußert hatte, als ich zum ersten Mal kein „Gedicht“ sondern eine den erzählenden Helden (der viel Ähnlichkeit mit mir hatte) auf die Schippe nehmende kurze Erzählung vortrug. Das, genau das möge ich fortführen (und nicht diese unpoetischen Gedichte). Da aber war ich schon zum ersten Mal beim zentralen Poetenseminar der FDJ gewesen – in den Räumen des Schweriner Schlosses und draußen in der Neubausiedlung. Begegnungen mit kritischen „richtigen“ Schriftstellern, engagierten Menschen, die alle dafür eintraten, schärfer hinzusehen, „mit dem Herzen“ zu sehen, sich einzubringen. Begegnungen wurden organisiert, die uns die Widersprüche von Anspruch und Wirklichkeit dessen, was Sozialismus zu sein für sich in Anspruch nahm, vor Augen führte. Fast noch Kinder erlebten wir die zerplatzende Illusion zukunftsfähigen Bauens. Aus der Not geboren, schnell ein Problem zu lösen, also jedem, der Wohnraum brauchte, welchen zu geben, wurden Siedlungen auf die Wiese gesetzt, die nach etwa 25 Jahren planmäßig durch etwas Neues, Richtiges hätten ersetzt werden sollen – was dann natürlich nie geschah. So erzählte es einer der Projektanten des Dreesch.

Dienstag, 14. Juni 2011

1. Abschnitt: Wie ich trotz und wegen der DDR ... (8)

Solche Erlebnisse werden heute zum „Zwangstopfen“ verballhornt. Unabhängig von der tatsächlichen Bedeutung unserer gesammelten Eicheln bleibt doch die Frage, wie verdammenswert es sein soll, wenn Kindern das Gefühl der Solidarität vermittelt wird. Ganz unmittelbar erlebten wir, dass es schwächere Wesen gibt, die durch unsere solidarische Hilfe überlebten. Okay … die richtige Vorbereitung auf eine Welt einzusetzender Ego-Ellenbogen war es nicht … aber genau darauf sollten wir auch nicht vorbereitet werden.
Allerdings ... solche Solidaritätsaktionen wie die für Angela Davis hatten zwei Seiten: Die agitatorische, dass doch eine Kommunistin unschuldig sein müsse (was sich im konkreten Fall juristisch belegen ließ), aber auch eine „rein“ menschliche: Stellt euch schützend vor Menschen, die zum Opfer legaler (oder halb legaler) Ungerechtigkeit werden könnten. Eine gute Sache wird doch nicht allein dadurch „schlecht“, dass sie mehr oder weniger „staatlich verordnet“ wird. Ich finde es heute peinlich, wenn ausgerechnet mit diesem Ausdruck „Linke“ den DDR-Antifaschismus verunglimpfen. Am System des damaligen (nicht) „realen Sozialismus“ gibt es Unmassen an Kritik-Punkten. Dass sich ein ganzes Volk mit den wenigen aktiven Antifaschisten, die das faschistische Terrorregime überstanden hatten, identifizieren durfte, halte ich für einen dankenswerten Zug.
Wie gesagt, ein Großteil der Möglichkeiten, die uns Kindern vor die Nase gedrückt wurden, passten trotzdem nicht zu meiner sich entwickelnden Persönlichkeit:
Fahnenappelle waren mir kleinen Anarchisten schon des Einordnens wegen suspekt. Als dann im Unterricht Friedrich Wolfs „Kiki“ zur Lektüre gehörte, wurde diese Geschichte sofort eine meiner allerliebsten. Die „Haltung“ des Hundes, die „Würde“ des Zwangsappells mit seinem Jaulen lächerlich zu machen, entsprach so vollständig meinem Verständnis – ich starb sozusagen im Kreis der trauernden Gefangenen und fühlte mich zugleich als eine der ihren. Dabei begriff ich erst viel später, dass die „Bösen“ keine „echten“ Faschisten gewesen waren, sondern sich ihnen Andienende. (Allerdings hielt sich die Zahl der militaristischen und Appell-Veranstaltungen, an denen ich habe teilnehmen müssen, in engen Grenzen, auch und vor allem später.)
Gemeinschaftliches Basteln und Malen und Sport waren mir der blanke Horror. Weil ich es nicht konnte, wollte ich es nicht. Als ich diesen Zusammenhang später immer besser verstand, verstand ich auch meine Mitschüler immer besser, die Grauen vor den Mathestunden empfanden, weil sie mit lauter Unlösbarem zusammenstießen.
Dafür war das Pionierhaus, bzw. darin die Pionierbibliothek für mich das Paradies. Das Pionierhaus wegen seiner vielen Möglichkeiten, die man auch einfach auslassen konnte, die Bibliothek … Ich glaube, schon in der 5. Klasse hatte sie mir kaum noch Neues zu bieten und ich besuchte eine „normale“. Der für mich normale Leseschnitt waren 4-5 „richtige“ Bücher pro Woche. Ich las also kaum Kinderbücher, sondern reiste in die Welten von Maupassant, Balsac, Dickens und vielen anderen. Ich hatte zwar absolut keine Ahnung, was eine Nutte sein könnte – ich empfinde heute weder mein Unwissen als Mangel als auch, dass es in meinem Schwerin real keine gab – aber empfand doch tiefe Abneigung gegen Menschen, die auf der einen Seite ihre Mitmenschen gebrauchten … und die dann dafür dünkelhaft verachteten. („Fettklößchen“)

Montag, 13. Juni 2011

1. Abschnitt: Wie ich trotz und wegen der DDR ... (7)

Aber noch etwas zeitlich zurück – zum einen, weil mir das auf´s Stichwort solidarisch einfiel, zum anderen, weil dabei sozusagen kindlich-naive Keime meiner späteren „kommunistischen Visionen“ gelegt wurden.
Aus dem, was ich bisher erzählt habe, müsste klar geworden sein, dass ich nie ein extrem kommunikativer Typ gewesen bin oder gar ein „Charismatiker“. Es gab aber eben Situationen, wo positive Gefühle vermittelt wurden. Dazu gehörten einige der Veranstaltungen der Kinder- und Jugendorganisationen.
Nein, nicht die kirchlichen. Meine Mutter hatte mich zur „Christenlehre“ in die Kirche geschickt, wo uns Geschichtchen erzählt wurden, und wenn wir brav waren, wurden wir mit Bildchen (heute würde man wohl „Sticker“ sagen) belohnt wurden. Für die Anregung meiner Fantasie waren diese Nachmittage wahrscheinlich sogar positiv. Aber für mich 8-/9-jährigen war es abstoßend, dass der Pfarrer (?) sie uns Kindern als wahre Geschichten darbot. Ich hätte da noch nichts von der „Wahrheit“ in Gleichnissen verstanden, empfand es aber als Beleidigung, dass jemand erwartete, ich würde Märchen für Wirklichkeit nehmen. Das war dann Grund für entschiedenen Protest bei meiner Mutter und fast das Ende meine Kontakte zu kirchlichen „Würdenträgern“. (Später empfand ich hingegen die Gastfreundschaft von Kirchenleuten auf meinen Tramptouren als wohltuend.)
Anders war das bei manchen Pioniernachmittagen. Die nachhaltigsten waren jene Ausflüge, bei denen wir Eicheln und Kastanien für die Tierparktiere (und zum Basteln) sammelten. Keine Ahnung, ob unsere Eicheln den Tieren dort wirklich das Überwintern erleichtert haben. Heute würde ich sagen, das war auch nicht das Wichtigste. Viel wichtiger war etwas Anderes: Wir hatten das Gefühl, etwas Nützliches, ja Wertvolles zu tun, was zugleich richtig Spaß machte. Das heißt, das Sammeln der Eicheln (und das Werfen nach Anderen) hätte auch OHNE einen höheren Sinn Spaß gemacht, es war ein vergnüglicher Zeitvertreib, das Gefühl, sozusagen unserem Patenschwein das Leben zu erhalten, machte uns aber erst richtig stolz auf eine eigene Leistung. Ich hätte da nicht an „Kommunismus“ gedacht, aber hat man nicht auch als Erwachsene Anspruch auf kindliche Freude an der eigenen Nützlichkeit? Wird sie einem nicht erst die Erfahrung von „allgemeinem“ Egoismus vergällt? Als positive Erfahrung haftet so ein Erleben natürlich nur (?) dann, wenn man seinen Erfolg greifbar gemacht bekommt. Wir waren natürlich eifrige Tierparkbesucher, wo uns der Nutzen unseres Tuns von kompetenten Personen bestätigt wurde. (Mir scheint es selbstverständlich, dass Kinder, denen solche greifbaren Nützlichkeitserlebnisse versagt blieben, tendenziell ein Stück weiter zu individualistischen Egoisten „erzogen“ werden – ohne eigentlich erzogen zu werden.)  

Sonntag, 12. Juni 2011

1. Abschnitt: Wie ich trotz und wegen der DDR ... (6)

Meine Sicht der deutsch-deutschen Fragen stammte sowieso nicht aus Schulunterrichtsquellen. Schwerin war glücklicherweise kein „Tal der Ahnungslosen“. Schon früh bezog ich die Nachrichten aus alle Welt nicht rotgefiltert aus der „Aktuellen Kamera“ sondern gegenmanipuliert von der „Tagesschau“. Allerdings hatte ich eben schon gelernt, dass es keine „Nachrichten“ an sich gibt. Mit etwas kritischem Blick gab es dort tatsächlich das zu entdecken, was der so verschrieene „Sudel-Ede“ Schnitzler aus den Westsendungen extrahierte. Auch an der Stelle war ich früh Außenseiter: Mir gefiel der Typ, der in der trüben Brühe der anderen Seite fischte – und mir schien logisch einleuchtend, dass das Salz (grins: Glutamat usw.), das vom Gewicht her den kleinsten Teil solcher Brühe ausmacht, doch dessen Wesen war – sonst wäre sie ja Wasser.
Ganz unschuldig an meinem Verständnis „kapitalistischen“ Denkens war sicher auch nicht, dass alle Verwandtschaft im Westen lebte. Langsam der kindlichen Überheblichkeit entwachsend entwickelte ich ein feines Gespür für Herablassung und Überheblichkeiten anderer Leute. Es mag ein Stück Selbsthass gewesen sein, von fremden Hochnäsigkeiten besonders stark abgestoßen zu sein.
Dazu kamen die Westpakete. In meine Erinnerung eingebrannt bleibt der Geruch ranziger Rama. Es waren noch mehr „Lebensmittel“ drin, aber auch Sachen zum Anziehen, die schon (ab)getragen waren. Ich empfand es als beleidigend, sah zwar ein, dass Geschwister und Eltern Beziehungen zueinander haben … aber sah eigentlich nicht ein, warum das Zeug nicht zurückgewiesen worden war. Meine Mutter war eine kriegspragmatische Frau. Sie konnte immer alles gebrauchen, filterte Notwendiges aus ihrer Verkäuferinnen-Tätigkeit und unserem Garten heraus, sodass wir nicht nur keinen Hunger kannten, sondern uns ausgesprochen abwechslungsreich ernährten (und auf ranzige Margarine bestimmt nicht warteten). Erst viel später erfuhr ich dann die Hintergründe jene Sorge für uns armen „Zonenbewohner“, was mein Bild vom im Westen geförderten Eigennutz nur bekräftigte:
Meine Großeltern (also die Eltern meine Mutter) hatten in kleinbürgerlichen Verhältnissen in der Nähe von Breslau gelebt. Dies reichte in der 20er Jahren zu einem kleinen Häuschen. Dann kam die Flucht. Im Westteil Deutschlands wurden sie Flüchtlinge, im Ostteil wir Mitbürger. Als Flüchtlinge bekamen sie für ihren verlorenen Besitz eine Entschädigung – diese nahmen sie „treuhändlerisch“ auch für die Verwandte außerhalb der „freien Welt“ entgegen. Akribisch verrechnete meine Tante die Paketinhalte mit diesem „Treuhandvermögen“ meiner Mutter – und natürlich wurden die Pakete als Unterstützung der bedürftigen Verwandtschaft in den Ostgebieten steuermindernd (pauschal, Masse beachten!) geltend gemacht. Vom Ergebnis war ihr letztlich eine „Geldwäsche“ zu ihren Gunsten gelungen. Man hätte es Beschiss nennen können. Zumindest solidarisch (grins) war es nicht.

Samstag, 11. Juni 2011

1. Abschnitt: Wie ich trotz und wegen der DDR ... (5)

Sie verführte mich damit zu einem Trugschluss: Voreiliger Weise dachte ich, so sei politische Bildung. Im Geschichtsunterricht wurde ich eines Besseren belehrt.
Der Geschichtslehrer war ein sehr autoritär auftretender Mann. Er gehörte zu den wenigen Lehrern, die nicht bereit waren, ein positives Verhältnis zu unserer Klasse zu entwickeln. Ich will nicht behaupten, dass er einem unserer Mitschüler verübelte, ihn bereits in der 5. Klasse laufend korrigiert zu haben. Der Junge war eben Urzeit-Freak, wusste also viel vom Leben der Urmenschen und stellte damit die vorgebliche Unfehlbarkeit der Lehrer schon früh in Frage. Nein, der Geschichtslehrer hatte eine große Liebe: seine optisch faszinierenden Tafelbilder. Mit feine Schrift verteilte er über die ausgeklappte Tafel (mitunter einschließlich Rückseite) Kästchen, zwischen denen er Pfeile fliegen ließ. Vorher – nachher, Ursache – (Anlass) – Wirkung …
Extrem schematisch, obwohl nicht einmal undialektisch. Von der Ursache ein dicker Pfeil zur Wirkung und darunter dann der dünne Pfeil, der besagen soll, dass das, was eigentlich Folge war, verändernd auf die ursprüngliche Ursache zurück wirkte und dass es eben Haupt und „Neben“-Gründe derselben Sache gebe.
In diesem Fach wurde erstmals laut das Wort „Kommunismus“ ausgesprochen.
Nun war ich sozusagen mathematischer Logiker. Über den Begriff wusste ich wenig. Eigentlich nur, dass das eine „klassenlose Gesellschaft“ wäre, in der es „keinen Staat“ gäbe. Mit Klassen konnte ich wenig anfangen, Staat aber, da gehörten also mindestens all die Gewaltinstrumente dazu. Die hat jeder, um sich selbst (gegen den / die Anderen) zu verteidigen. Würde also eine Seite ihren „Staat“ verschwinden lassen, wäre der Weg der anderen Seite frei, die eigene Macht zu erweitern. Also kann es einen „Kommunismus“ auf der Welt auf jeden Fall nicht geben, wenn es zugleich noch Kapitalismus gäbe.
Diese Schlussfolgerung habe ich auf jeden Fall ausgesprochen, zur logischen Herleitung kam ich nicht mehr ganz. Zu meine Wortwahl kann ich natürlich nichts mehr sagen. Aber auf jeden Fall bekam ich das Wort verboten. Ein Schwall von Flüchen wurde über mich ausgeschüttet. Die übelste Bezeichnung, mit der ich versehen wurde - mit der ich aber nichts anzufangen wusste, außer dass es des Tonfalls wegen etwas Grauenvolles sein musste – war „Trotzkist“. Offenbar war das also noch etwas Schlimmeres als Faschist und ich hatte gerade die schlimmstmögliche Feindpropaganda in den Raum geworfen.
Alles nur wegen einer absolut primitiven logischen Schlussfolgerung, hinter der ich, wenn auch mit einem breiteren Spektrum von Begründungen, auch heute noch stehe. Wenn ich dem entsetzten Doggen-Lehrer noch an den Kopf geworfen hätte, dass also der entfaltete „Kommunismus“ keine Politik der friedlichen Koexistenz kennen könne – rein logisch, weil dies ja eine Beziehung zwischen Staaten sei, die es per Definition nicht mehr gebe – wäre entweder er mit dem Notarzt oder ich in Ledermantelmann-Begleitung aus dem Klassenraum geführt worden.
Natürlich habe ich mir bei diesem Lehrer weitere eigene Schlussfolgerungen verkniffen.

Freitag, 10. Juni 2011

1. Abschnitt: Wie ich trotz und wegen der DDR ... (4)

In der 7. Klasse begann dann unsere vorsätzliche „Bewusstseinsbildung“ in Form des Staatsbürgerkunde- und Geschichtsunterrichts. Rückblickend muss ich allerdings einräumen, dass die ethischen Normen, die nun Namen bekamen, bereits vorher geprägt waren, weil sie uns vorgelebt oder eben nicht vorgelebt wurden. „Gut“ oder „Böse“ ist sozusagen sowohl greifbarer als auch abstrakter als „Sozialismus“ und „Kapitalismus“. Die Leistung der entsprechenden Unterrichtsfächer bestand also nicht darin, irgendetwas wirklich ideologisch vermittelt zu haben. Allerdings wurde z.T. Vorhandenes gefördert bzw. gebremst.
Vielleicht hätte ich ein freundlicheres Verhältnis zur „Nationalen Volksarmee“ der DDR entwickelt, aber die Verhältnisse waren eben nicht so. Meine Sportbegeisterung war nie so groß, dass mich da etwas gelockt hätte. Emotional ein egozentrischer Anarchist war mir jegliche Beziehung von unterordnendem Gehorsam zutiefst zuwider – nicht nur, aber auch, weil ich mich hätte unterordnen sollte. (In einem krankhaften Anfall von Übermachtssadismus spielte ich meinem engsten Freund gegenüber einen SS-Mann: Ich zwang ihn, den schwarz Gelockten, durch brutale Gewalt dazu „Ich bin eine dumme Judensau!“ auszurufen, um frei zu kommen … und ich könnte nicht sagen, vor wem ich mich nachher mehr ekelte: vor ihm, der sich derart demütigen ließ, oder vor mir, dass ich zu so etwas fähig gewesen war …) Rund wurde meine Grundhaltung zum Thema Armee dann eigentlich erst dadurch, dass es in der Klasse bei den Auseinandersetzungen mit der Staatsbürgerkundelehrerin einen einzigen Schüler gab, der sich sichtlich bemühte, die Aussagen zu finden, die voraussichtlich die Lehrerin zu hören hoffte. Dieser Speichellecker mit mäßigem geistigen Niveau strebte an, Offizier zu werden. Ich konnte ihn mir als Typ einfach zu gut als Stiefel in einer preußischen Untertanensoldateska vorstellen. Das schon vorher ausgeprägte Bild, Körperkraft zeigten die, denen es an Geisteskraft mangelte, wurde untermauert – nur eben auf höherer Ebene. (Ich muss also Verständnis für Menschen haben, die ihre engen eigenen Erlebnisse zu unzulässig Pauschalurteilen verallgemeinern.)
Aber die Stabü-Lehrerin hat auf ihre Weise bei mir etwas bewegt. Im Nachhinein tut sie mir eigentlich Leid. Es war mir ein teuflisches Vergnügen, den ungeliebten „Rotlicht“-Unterricht zu sprengen. Hier konnte ich die ganze spitzfindige Rafinesse boshafter Sprachanalyse an die Front werfen. Ich hatte die meisten Schulbücher zu Beginn der Unterrichtsjahres schon überflogen. Im Staatsbürgerkunde-Lehrbuch fiel mir dabei etwas auf: Außer bunten Bildchen gab es Kästchen mit Zitaten der „Klassiker“ des Marxismus-Leninismus, die ich sozusagen als die Verkündigung Moses ansah (so waren sie wohl auch ausgesucht und gemeint), während der eigentliche Text das profane Bla-Bla war. Da Gute daran: Es ließen sich in dem profanen Zeug Widersprüche zu Gottes, Pardon: Marxens, Kernsätzen in den Kästchen entdecken. Also bereitete ich so einige Stunden vor. Ich sprengte sie mit der Absicht zu beweisen, dass das, was wir als wunderbare Wirklichkeit unserer größten DDR alle Zeiten erklärt bekommen sollten, gar nicht das war, was der große Marx sich als sozialistische Gesellschaft vorgestellt hatte. Widerspruch als Gehirnsport.
Alle intelligenten Mitschüler verfolgten die Diskussionen mit Vergnügen und unterstützten mich nach bestem Wissen, die weniger intelligenten freuten sich, dass die Stunden nicht als langweilige Lernstunden versandeten. Nur jener Heßling-Möchtegern-Offizier mühte sich um Unterstützung der Lehrerin. Die aber war vor allem von uns Jungen begeistert. Weil wir so offen Interesse zeigten, ließ sie ihre Stundenvorbereitung in der Tasche und versuchte, unser Denken zu lenken. Argumente wurden nicht niedergeschlagen und „Erklärungen“ vermittelt, wie wir etwas sehen sollten, sondern sie versuchte, uns die Widersprüchlichkeit von Vorgängen begreiflich zu machen. Nicht einfache Antworten, sondern Bewegung und unter der Oberfläche des offen Sichtbaren gebe es erkennbare Zusammenhänge, um deren Aufdeckung man sich bemühen muss – das nenne man im Sinne von Marx zu handeln und das könne sogar Spaß machen.

Donnerstag, 9. Juni 2011

1. Abschnitt: Wie ich trotz und wegen der DDR ... (3)

Mit dem Verschwinden des Standardopfers, an dem sich meine Mitschüler ihren Schulfrust abreagiert hatten, begann die Suche nach neuen Opfern. Wir waren eine Klasse mit einem Überschuss an Jungen und die körperlich etwas stärkeren begannen nun die Jagd auf körperlich Schwächere. Damit geriet auch ich wieder ins Visier. Allerdings hatte sich die Situation innerhalb der Klasse verändert. Es waren nicht nur gelegentlich ein paar Kinder in meiner Nähe, um meine Blödeleien zu hören, sondern ich hatte einen Kreis von kindlichen Partnerschaften: Einen Freund, der an mir hing wie Watson an Holmes, und noch ein paar Andere, durch die ich mich wie ein Bandenchef fühlen konnte. Ausnahmslos waren es aber alles körperlich nicht überlegene Jungen. Die gegenseitige Hilfe bestand u.a. darin, dass ich bei den Hausaufgaben half und dafür meine Kunst-Werke für den Zeichenunterricht vorbereitet bekam, sodass eine Vier in Zeichnen nun selten wurde (Es waren manchmal sogar Zwei dazwischen – Einsen nicht, denn ein paar Striche stammten von mir.) Meine logische Lektion: Andere konnten etwas, was ich nicht konnte, und umgekehrt. Wenn dies auch offiziell nicht erwünscht war, eigentlich sogar als Betrug bewertet wurde, so stand doch fest, dass die gegenseitige Nutzung unserer Stärken für alle Beteiligten Vorteile brachte. Es machte mir dabei wenig aus, dass ich mehr einbrachte als ich herausholen konnte.
Das Problem der Prügel, des Mobbings der Schwachen war damit aber noch nicht gelöst. Es fanden nämlich immer ausreichend körperlich Überlegene zusammen, um ausreichend Schwächere zu quälen. In die Gruppe der „Schwächeren“ gehörte sogar ein Junge von hohem Körpergewicht, dem es aber deshalb an Schnelligkeit und Beweglichkeit mangelte. Was mich am meisten deprimierte: Die da prügelten waren „leistungsschwache“ Schüler, die sich auf solche Weise ihr „Siegerlebnis“ aus der Schule holten, die Betroffenen jedoch versuchten – letztlich meist erfolglos – sich im Bewusstsein der bevorstehenden Niederlage der körperlichen Auseinandersetzung zu entziehen … sie liefen also davon. Eigentlich ging dies so bis Klasse 7. Und dann passierte etwas, was ich im Nachhinein vielleicht überbewertet und fehlinterpretiert habe. Aber es ist eben genau so passiert:
In einer großen Hofpause war es mir gelungen, alle die eigentlich auf „meine“ Seite gehörten zu sammeln. Es kam zur Schlacht. Diesmal blieben wir nicht nur (wie sonst eigentlich auch) zahlenmäßig überlegen, sondern wir kämpften auch geschlossen. Und wir beendeten diese Hofpause als Sieger. Womit ich nicht gerechnet hatte, trat ein: Von kleinen „Kappeleien“ (wie das meine Mutter genannt hätte) abgesehen, die ja wohl überall vorkommen, trat ein dauerhafter Friede ein. Nicht, dass wir nun alle Freunde geworden wären, aber das große Problem, dieses permanente Massenmobbing war zu Ende.
Es ist natürlich nicht auszuschließen, dass wir insgesamt reifer geworden waren und diese „Schlacht“ nur Anlass und nicht Grund war, aber auf jeden Fall erlebte ich in dieser Schülerrolle die Siegpotenz von Underdogs, sobald sie als solidarische Gemeinschaft kämpften.
Ein Anhänger körperlicher Gewalt bin ich damit nicht geworden. Allerdings erlebte ich recht handfest, dass es Situationen gibt, bei denen sie notwendiges Mittel ist, um Gewaltverhältnisse zu beenden. Das hatten wir erreicht – und darauf bin ich noch Jahrzehnte später stolz.

Mittwoch, 8. Juni 2011

1. Abschnitt: Wie ich trotz und wegen der DDR zu meinem ganz individuellen Kommunismus fand (2)

Allerdings war dieses erste Dorfschuljahr auf der anderen Seite zutiefst demütigend: Gestartet mit der Empfehlung der Dorfweisen, die ersten Schuljahre wegen Unterforderung zu überspringen und gleich mit Klasse 4 zu beginnen, erlebte ich eigene Unfähigkeiten besonders schmerzhaft. In Sport war ich nicht gut, in Fächern, die ein Minimaß an handwerklichem Geschick voraussetzten, war ich etwa so sehr Untermaß wie im Rechnen (noch) Übermaß. Dies wurde durch einen pädagogischen Tiefschlag noch potenziert: Genetisch war (bin) ich Linkshänder. In den ersten Schulwochen litt ich extrem. Ständig wurde ich darauf hingewiesen, doch bitte die „richtige“ Hand zu benutzen. Irgendwann hatte ich gelernt, der Lehrerin an den Augen abzulesen, dass ich meinen Stift gerade in der „falschen“ Hand hielt. Allmählich schrieb ich überwiegend mit rechts. Lange konnte ich allerdings rechts und links nicht unterscheiden und ich habe es nie geschafft, wenigstens 50 Prozent der Schreibgeschwindigkeit meiner Mitschüler zu erreichen und meine „Handschrift“ blieb eine Zumutung für alle, die etwas von mir Geschriebenes lesen mussten.
Die Krone der Demütigung erlebte ich am Ende des ersten Schulhalbjahres. Die Lehrerin ließ uns in der Reihenfolge unseres Gesamtzensurendurchschnitts antreten. Ich Wunderkind war dabei nur Siebenter.
Nicht unwichtig mochte für meine „spezifisch kommunistische“ Persönlichkeit noch gewesen sein, dass ich nach der abgebrochenen Kindergartenzeit allein zu Hause auf die Rückkehr meiner Mutter von ihrem Halbtagsjob warten musste. Grübelnd, beobachtend und … lesend. Ich entwickelte mich zu einem Außenseiter, Beobachter und Gerechtigkeitsfanatiker, wobei gerecht war, was ich richtig fand.
Keine Ahnung, wie ich geworden wäre, wäre meine Familie nicht im Frühjahr vor Abschluss der ersten Klasse in die Stadt gezogen. Nun konnte ich von meinem Fenster aus auf den Schulhof, altehrwürdige Kastanienbäume und ein Schulgebäude von 1892 sehen – auf einen Backsteinbau, ziegelrot und massig wie eine Festung oder Kaserne. Das wichtigste Gefühl meinen potentiellen künftigen Mitschülern gegenüber war am Anfang nackte Angst. Um keinen Preis wollte ich aber so isoliert bleiben wie zuvor.
Die Rolle des Chefs war vergeben, die des Klassenkaspers frei, und wenigstens in den folgenden drei Jahren füllte ich sie fantasievoll aus. Den Unterricht zu stören fiel mir nicht schwer und die dümmsten Kinderwitze verwandelten sich in meinem Mund in lange Geschichten.
Diese Rolle hatte mehrere „Vorteile“. Ein Stück Aufmerksamkeit behielt ich und beim großen Mitschülermobbing konnte ich zusehen. Das Hauptopfer war über viele Monate ein Mädchen, das durch ihren Geruch und ihre staksigen Bewegungen am meisten auffiel und das Hinundherschubsen dadurch vergnüglicher machte, dass sie so herrlich quäkte, Angst zeigte und „Was hab ich euch getan?“ oder „Lasst mich doch in Ruhe!“ jaulte. Dem Zugriff der Lehrer entzog sich der Terror dadurch, dass „Erdnuss“ erst nach Schulschluss und draußen vor dem Schulgebäude gequält wurde. Ihr Pech war, dass der Hofausgang neben der Haupttür lag, sodass sie nicht ungesehen die Schule verlassen konnte – und immer waren welche vor ihr da, um die sich dann die anderen Wartenden sammelten.
Es hätte natürlich niemand zugegeben und irgendwie war es erst so etwas wie ein Triumph, als das Mädchen aus der Schule genommen wurde und in einer „Hilfsschule“ bis zu Klasse 6 kam, aber im Unterbewusstsein einiger Mitschüler wuchs doch das Gefühl, dass wir das Leben eines Menschen zerstört hatten, der uns wirklich nichts getan hatte. (Und in meinem Unterbewusstsein prägte es das dauernd schlechte Gewissen, dass ich lachend dabei gestanden hatte.)

Dienstag, 7. Juni 2011

1. Abschnitt: Wie ich trotz und wegen der DDR zu meinem ganz individuellen Kommunismus fand (1)


„Kommunismus“ ganz individuell? Am Ende sogar „individualistisch“?
Sollten sich bei mir irgendwo „Wissenschaften“ einschleichen, so möge man mir dies verzeihen. Dann dachte ich wohl, dass es an der Stelle nicht anders ging. An sich bin ich nur ein „Künstler“ - eine Bezeichnung, die nicht geschützt ist, sodass sich jeder Mensch damit schmücken kann – also eben auch ich. Als solcher gebe ich zu: Ich bin Individualist. Hielte ich „Kommunismus“ für eine verordnete Gleichmacherei im Sinne einer Kollektivierung, wäre das keine für mich wünschenswerte Zukunftsvorstellung. Für Massenparaden vorbei an einem Großen Vorsitzenden bin ich einfach nicht gemacht. Auch habe ich meine eigene Sicht darauf, was „vernünftig“ ist. Die muss man nicht teilen. Aber als ein penetrant aufdringlicher Schüler konnte ich es mir schon früher nicht verkneifen, dazwischen zu rufen und den Finger vor lauter Fragen oben zu behalten. Warum dann heute? Vielleicht hilft es auch der Fantasie Anderer auf die Sprünge … Sagen wir einem … oder zweien … oder ...
Eben weil ich so bedingungslos Ich-bezogen schreiben möchte, beginne ich einfach mit … meinem Anfang. Gut, nicht ganz, denn über meine Geburt kann ich nichts sagen. Da war ich zwar dabei, sogar als die Hauptperson, aber nicht so richtig voll da. Bedeutsamer für das, was aus mir wurde, war schon meine frühe Kindheit. Eigentlich kann ich mich auch an die nicht selbst erinnern, aber die Erzählungen darüber waren zahlreich und die Folgen habe ich handfester in Erinnerung.
Ich war nicht nur ein unvorhergesehener (unbeabsichtigter) Nachzügler, sondern wahrscheinlich von Anfang an ein sehr antiautoritäres, schwieriges Kind in einer autoritären Familie. Nicht hübsch und brav, sondern aufdringlich wie eine jener berühmten grünen Fliegen. Meine Eltern (also meine Mutter) fanden viele Gründe für den Einsatz diverser Gegenstände zur körperlichen Züchtigung. Ob mir dies geschadet hat, kann ich nicht beurteilen. Dabei geholfen, aus mir einen „anständigen Jungen“ zu machen, hat es jedenfalls nicht. Zu meinen frühkindlichen Besonderheiten gehörte eine ungewöhnliche Verbissenheit und gelegentliche Ausgüsse unerwarteter Intelligenz. Auf jeden Fall war ich häufig Gesprächsstoff der zusammen hockenden ältlichen Damen jener Siedlung, in der ich aufwuchs. Wahrscheinlich sei ich ein Wunderkind und würde eine Sensation für die Welt, meinten die. Welches Menschlein kommt denn schon im zarten Alter von fünf Jahren auf die Idee, wie ein Chronometer um den Dorfanger zu rollern und dabei laut bis zu einer Million zu zählen – nach 1000 allerdings in Tausender-Sprüngen. Ich wurde also gelegentlich herumgereicht, um Zeugnis meiner unbegreiflichen Rechenkunst vorzuführen. So zweifelhaft die Wunderkind-Diagnose der Dorf-Dämlichkeiten auch war, in mir ließ sie die Überzeugung wuchern, dass ich wohl etwas Besseres war als die Dorfgören. Wenn man also bei einem Fünfjährigen bereits von „Überheblichkeit“ sprechen kann, dann war ich das Muster frühen überheblich Seins. Mein Fehler nur: Ich zeigte dies den anderen Kindern gegenüber sehr abstoßend offen und gestritten habe ich mich wohl auch fast ohne Unterbrechung. Bald war ich völlig isoliert, ein echter Einzelgänger. Freunde hatte ich keine und aus dem Dorfkindergarten musste ich herausgenommen werden, weil ich regelmäßig und intensiv verprügelt wurde – und zwar von der Masse der anderen Kinder. Im ersten Schuljahr wurde ich zur Qual meiner Lehrerin, da ich zügellos über die Unfähigkeit der Mitschüler herzog, solche Babyaufgaben wie zehn minus drei auszurechnen. Wie wollten die denn dann 910 minus zwölf gleich 898 rechnen?