Donnerstag, 30. Juni 2011

1. Abschnitt: Wie ich trotz und wegen der DDR (21)

Also der Regen kam schneller als ich das hier aufschreiben kann und mit urwüchsiger Kraft. Wir waren gerade an einem Grundstück vorbeigekommen, von dem eigentlich nur ein Rasenstück mit Baum zu erkennen gewesen war. Liane reagierte und dirigierte schneller, als ich denken konnte. Ehe ich mich versah, hatten wir unser Zelt aufgebaut und waren darin dabei, uns aus den nassen Sachen zu schälen. Da hob sich die Plane am Eingang. Ein Frauengesicht tauchte auf. So wie zuvor vom Regen wurden wir nun von einem Guss Schimpfworte – zumindest klang es so – überschüttet. Wir verstanden nur, dass die Frau Rumänisch sprach und unsere Versuche, auf Deutsch oder Englisch zu antworten, ignorierte. Nein: Wir verstanden noch, dass wir weg sollten. Erst kam es uns vor, als wollte die Frau uns von dem Privatgrundstück vertreiben. Sie war aber ausdauernd und so waren wir wenige Minuten später in dem Haus im Hintergrund, das wir bei dem dichten Regen überhaupt nicht gesehen hatten. Wir wurden in ein eigenes Zimmer mit Doppelbett und vielen Handtüchern eingewiesen und … kaum getrocknet hatten wir der „Hausherrin“ zu folgen:
In der „guten Stube“ empfing uns „die Familie“, die im Laufe des Nachmittags und Abends immer weiter anschwoll. Was sich dabei ereignete, war höchstens mit einer großen Hochzeitsfeier vergleichbar. Man muss dabei berücksichtigen, dass die Rumänen zu dieser Zeit in dieser Gegend extrem ärmlich lebten. Uns waren die Alten vertraut, in Fahrzeugen, die „Busse“ zu nennen eine sehr charmante Schmeichelei war, mit Säcken zum nächsten Marktflecken unterwegs waren, um darin Fladen und anderes einfaches Essbares für die Gemeinschaft heranzubuckeln. Auf der Festtafel vor uns aber mangelte es an nichts. Immer wieder wurden wir unmissverständlich genötigt, das und das und das zu probieren. Jemand, mit dem wir uns hätten sprachlich verständigen können, fand sich nicht. Uns zu Ehren (?!) wurde ein Fest abgehalten, das uns in die Ebene von Staatsgästen erhob und das in der Menge das zusammengerechnete Monatseinkommen der Anwesenden übersteigen konnte. Übersättigt und stark angetrunken sanken wir letztlich irgendwann in unsere Himmelbetten. (Wir bekamen am Morgen mit, dass wir im Schlafzimmer der Bewohner einquartiert worden waren.)
Wir wurden verabschiedet wie gute alte Freunde – wenn auch in der Gewissheit, dass wir einander nie wieder sehen würden. Der Schock kam aber erst, als wir Mittagsrast machen wollten. Da stellte sich nämlich heraus, dass „jemand“ uns außer den Fresspaketen noch Bierflaschen in die Rucksäcke gesteckt hatte. Dazu muss man eben wissen, dass Bier in jener Gegend nicht nur extrem teuer, sondern auch selten gewesen war. Der heimliche Beschenker war zurecht davon ausgegangen, dass wir diese Gabe nicht angenommen hätten (hätten annehmen können) und das Bier eben das Getränk für Deutsche wäre..
Ich kann nicht einmal sagen, ob wir wenigstens auf Rumänisch „Danke!“ gesagt haben … (Zumindest den von den Anderen verwendeten Abschiedsgruß haben wir wiederholt.)

Mittwoch, 29. Juni 2011

1. Abschnitt: Wie ich trotz und wegen der DDR (20)

Aber ich muss noch einmal zeitlich weiter zurück greifen. Schließlich ist es nicht allein eigene ausufernde Fantasie, dank derer es mir leichter fällt, mich in Bedingungen hineinzuversetzen, die es in der uns vorliegenden Welt einfach nicht gibt, egal ob nicht mehr oder noch nicht.
Im Anschluss an das Studium war mir nämlich eine Reise vergönnt, die mir in gewisser Hinsicht als eine Zeitreise vorkam. Dabei begann sie mit einem für mich typischen Reinfall. Gegen Ende des Studiums wurde ich mit einer Studentin verkuppelt, die ihre Semesterferien bereits verplant hatte. Ohne meine körperlichen Probleme zu berücksichtigen, stimmte ich spontan zu, mit ihr und ihren Freunde mitzukommen. Wir würden also durch die rumänischen Karpaten wandern. Einfach Rucksack gepackt und los. Bei den ersten Beanspruchungen meine Knie wurde dann deutlich: keine Chance. Alleine zurück? Liane hatte den rettenden Einfall. Sie trennte sich auch von den Anderen und zu zweit begann eine Tour, bei der ich nicht sagen kann, ob sie sich heute irgendwo auf der Erde wiederholen ließe ...

Also ich gebe zu, dass ich die Route nicht beschreiben kann, den wir da zurückgelegt haben. Wir haben keine „offiziellen“ Stationen gemacht, also irgendetwas Hotelartiges aufgesucht. Wir sind getrampt ohne konkretes Ziel. Höchstens: In der Gegend gab es viele Leute, die Deutsch sprachen. Solche Leute wollten wir finden, bei ihnen übernachten, uns unterhalten und Vorschläge bekommen, was wir als nächstes unbedingt ansehen sollten. Es gab keine Kontaktprobleme und kaum ein Fahrzeug fuhr an uns vorbei, ohne zu halten und nach unserem Ziel zu fragen. Nun schien Liane zwar einem Fotoalbum über Blumenkinder entstiegen, aber das war trotzdem nicht der entscheidende Grund. Die Freundlichkeit war allgegenwärtig, beschränkte sich nicht auf die Solidarität der sich verfolgt fühlenden deutschen Minderheit. Obwohl für einen Deutschlehrer die Begegnung mit Menschen, die ein „Deutsch“ sprachen, das in ihrer heimatlichen Landschaft wohl vor 150/200 Jahren gesprochen worden sein mochte, bereits ein Erlebnis für sich war. Gerade die Assimilierungspolitik unter Ceaucescu förderte als Anti-Haltung das Festhalten an überlieferten Traditionen. (Insoweit kann ich heute die „Migranten“ in Deutschland leichter verstehen, dass sie sich nicht zu Deutschen dritter Klasse umwandeln lassen wollen.) Am drastischsten erlebten wir dies in einer Familie, in der der „Patriarch“ eine Ungarin geheiratet hatte. In seiner Umgebung, in seinem Haus durfte nur DEUTSCH gesprochen werden. In der Schule durfte die Tochter nicht deutsch, musste Rumänisch sprechen. Die Mutter freute sich, weil sie wenigstens heimlich jemanden hatte, mit dem sie sich in heimischen ungarischen Klängen verständigen konnte – wie gesagt: jeweils vor den anderen Parteien geheim zu halten.
Doch das war nicht das, was mich am stärksten beeindruckte. Das nämlich ereilte uns total unverhofft. Man stelle sich vor, ein Fahrzeug hatte uns in einem abgelegenen Dorf abgesetzt. Wir waren ein Stück fröhlich in Richtung Ortsausgang gelaufen. Da überraschte uns ein Gewitterguss

Dienstag, 28. Juni 2011

1. Abschnitt: Wie ich trotz und wegen der DDR (19)

Das Maß an Kreativität der Arbeit war sehr hoch. Ich hätte natürlich auch ohne anzuecken etwas „zum Abhaken“ machen können. Aber gerade weil ich es selbst wollte, jagte ich laufend Verbesserungen hinterher. Seltsamerweise schlug das besonders die schwächsten Glieder der Abteilung in den Bann. Wir „Verantwortungsträger“ teilten uns nämlich eine Sachbearbeiterstelle bzw. Schreibkraft, die eigentlich für jeden von uns Hilfsarbeiten zu erbringen hatte, wenn sie gebraucht wurde. Die erste Kollegin war aber oft nicht anwesend, wenn sie an sich anwesend war. In Gedanken (und mindestens am Telefonhörer) war sie vorrangig beim Bändigen ihrer pubertierenden Tochter (sie war allein erziehend). Ihr Ruf war demzufolge wenig berauschend: Faul, quatscht viel, hat von nichts Ahnung … usw.
Ich war ja nicht ihr „Chef“. Aber ich missbrauchte sie zum Ideentest und für organisatorische Aufgaben mit sehr komplexen Anforderungen. Ergebnis: Sie blühte allmählich auf. Sie entwickelte Vergnügen an der (Mit-)Lösung von Problemen, die nicht von vornherein lösbar schienen. Sie brachte sich in immer beeindruckenderem Umfang in die Arbeit ein. Schließlich wuchs in ihr Stolz darauf, was WIR geschafft hatten. Bei ihrer jüngeren Nachfolgerin war dies noch stärker. Während sie von den Anderen so behandelt wurde wie jemand, von dem man wenig hielt, konnte sie sich neben mir voll entfalten. Abgesehen davon, dass sie durchaus intelligent war, verstanden wir uns extrem gut zu ergänzen. Über ihre weiblich charmanten Umgangsformen verfügte ich nun mal nicht – jeder zog aus dem Anderen die größten Nutzeffekte, zusammen ergab sich ein Niveau, auf das wir uns einiges einbilden konnte (und das jeder für sich allein nie erreicht hätte).
Beide Sachbearbeiterinnen wuchsen über sich hinaus, indem ihre Aufgabe sie forderte, indem sie ahnten, die jeweilige Aufgabe lösen zu können … und dadurch, dass sie das Gefühl hatten, dass eine schwierige Aufgabe von ihnen (mit) gelöst werden würde, weil genau sie das waren, ihre ganz persönlichen Qualitäten.
An sich Banalitäten. Aber es kann schon beeindrucken, wie weit Menschen über ihren bisherigen Schatten springen können, wenn die Rahmenbedingungen dafür stimmen. Bei beiden Kolleginnen war die unterschwellige Verachtung, die ihnen meist entgegengebracht worden war, nicht von vornherein unberechtigt. Beide aber entfalteten eigentümliche Qualitäten, sobald die als wertvoll angenommen wurden.

Montag, 27. Juni 2011

1. Abschnitt: Wie ich trotz und wegen der DDR (18)

Gelegentlich entschuldigt „man“ den Frieden, den viele DDR-Bürger mit dem Staat gemacht hätten, (weil sie diesen Staat nach heutiger Lesart ja unbedingt ablehnen mussten) damit, dass sie sich „in Nischen“ einrichteten. Stimmt: So könnte man das bei mir ausdrücken. Ohne den DDR-Staat abzulehnen (allerdings auch nicht kritiklos anzunehmen), fand ich eine „Nische“ für mich. Allerdings hatte mein „Nischendasein“ Formen, die nicht nur ihrer Zeit weit voraus waren, sondern heute schwer vorstellbar sind.
Klar. Ein Großteil der Bedingungen war Besonderheiten in der betrieblichen Arbeitsorganisation geschuldet. Eine entscheidende war die räumliche Ausgliederung. Obwohl leitungstechnisch in einem Topf mit der „Kaderabteilung“ (also dem, was heute Personalwesen heißt), waren unsere Arbeitsplätze nicht auf dem Betriebsgebäude, sondern meist in wechselnden Wohnungen untergebracht. Die Kollegen hatten alle gut voreinander abgegrenzte Verantwortungsbereiche. Der Abteilungsleiter verstand sich nicht als Kommandeur, sondern als Puffer zwischen praktischen Einzelkämpfern und vorgesetzten Theoretikern, die viel zu sagen hatten, aber wenig von ihren Angelegenheiten verstanden.
Meine Aufgabe war eine Dienstleistung für das Kombinat (also die organisatorische Zusammenfassung von allen Betriebe mit zusammen passendem ähnlichen Profil – wobei diese „Definition“ nur dadurch anfechtbar wird, dass ALLE volkseigenen Betriebe einem Kombinat angegliedert waren … und manches passte eben nicht …): Der Außenhandelsbetrieb also war innerhalb des Kombinats zuständig für die gesamte Tätigkeit aller Kombinatsbetriebe im Ausland, wobei für das „nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet“ Sonderbedingungen herrschten. Alle diese „Reise- und Auslandskader“ hatten vor der ersten Auslandsdienstreise (und dann rhythmisch) einen allgemeinen Lehrgang zu absolvieren. Was dort Gegenstand sein sollte, war in allgemeinen Ministeriumsplänen (grins) festgehalten. Allerdings war dies genau genommen inhaltlich ein geballtes Gesamtstudium Außenwirtschaft, Weltanschauung und Menschenqualität / Benehmen in der Öffentlichkeit in einem. Also eigentlich so gefasst, dass irgendwie auf jeden Fall vom großen Plan abgewichen, sprich: gestrichen werden musste. Es war den Bedingungen vor Ort überlassen, zu entscheiden, was wirklich gemacht werden konnte. Ich hatte die tatsächlichen Lehrgänge zu planen und diese Planung auch praktisch umzusetzen. Dabei hatte ich freie Hand, woher ich welche freien Dozenten gewann (allerdings auf das Inland beschränkt). Es wäre wahrscheinlich überhaupt nicht aufgefallen, hätte ich einige Tage nur Privatangelegenheiten erledigt. Da wäre ich eben auf Dozentensuche gewesen.
Erfolg war, wenn die Teilnehmer nicht nur ihre Pflichtwochen abgesessen , sondern etwas zur eigenen Weiterentwicklung mitbekommen hatten. Da durfte man sich schon einiges einfallen lassen. (Mein Abteilungsleiter sorgte dafür, dass nicht jeder potentielle „Bremser“ von allzu ausufernder Kreativität erfuhr.)

Donnerstag, 23. Juni 2011

1. Abschnitt: Wie ich trotz und wegen der DDR (17)

Darf man mir verübeln, dass ich das vergnüglich fand? Aus einer spontanen Tageslaune heraus landet einer auf einem Pädagogenplatz – und noch dazu auf dem des grausigen Rotlichtbestrahlers für unschuldige Kinder? Ich kann es nur für meinen Fall sagen: Ja, so anarchisch habe ich Staatsbürgerkundelehrer werden können. Und mir ist nie ein „Stasi“-Schlapphut mit dem Wunsch nach einer „Verpflichtung“ begegnet (und aus anderen Gründen auch nicht) – ja, ich war nicht einmal Mitglied oder „Kandidat“ der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Das war nicht Bedingung (wäre wegen des Aufnahmeverfahrens auch nicht möglich gewesen, da ich kein Jahr irgendwo fest haften geblieben war). Später habe ich mich darum bemüht, dies zu ändern. Das war schwieriger. Ich nahm es allerdings auch ernst mit der Auswahl meiner Bürgen. Ich hatte meine Freiheit voll ausgereizt und erwartete nicht von vornherein, dass man ausgerechnet mir Vertrauen entgegenbrächte – brachte man aber.
Probleme gab es eigentlich überwiegend mit Kleingeistern. Während die Freiheiten genossen, die wir in der „Sektion Marxismus-Leninismus“ bei der praktischen Ausgestaltung des Studiums und im Ausreizen unserer Meinungsbildung hatten, beobachteten wir bei den Studenten der Geschichtssektion Anderes. Dort wurde schulmäßig gegängelt. Ich entschied jedenfalls sehr frei darüber, welche Veranstaltungen ich tatsächlich in Anspruch nahm, und viele der Gedankengänge, mit denen uns unsere Professoren „bearbeiteten“, hätte nach heute üblichem DDR-Bild deren sofortiges Verschwinden in „Stasi-Knästen“ zur Folge haben müssen.
Einzig die „Freiheit“ zum Drogen“konsum“ hatten wir nicht – ich glaube aber nicht, dass mir da etwas entgangen sein könnte. Klar wäre ich gern auch einmal durch die andere Hälfte der Welt gereist, aber durch die Länder des Ostens zu reisen war auch bereichernd, wenn man die Augen offen hielt.
Darauf komme ich noch zurück.
Für meinen Gesamtweg war dann ein anderer Bruch Ausschlag gebend: Klar, ich konnte mich hinter den Stimmbändern verstecken. Aber eigentlich bin ich nie auf dem Weg zu einem guten Lehrer gewesen. Was den Umgang mit Schülern anging, bin ich eben eher „Coach“ oder Geistes-“Trainer“ für interessierte Gruppen als ein Massen dressierender Lehrer. An der ersten Einsatzschule nach dem Studium war ich aber der einzige Staatsbürgerkundelehrer, der alle Schüler der Schule in dem Fach zu unterrichten hatte – ohne die meisten je kennen gelernt zu haben.
Vielleicht hätte man mir meine „Anfangsprobleme“ kameradschaftlich verziehen. Aber eine Kollision mit der Parteisekretärin der Schule vernichtete meine Position. Meine scharf antimilitaristischen Auffassungen, die natürlich nicht vor menschenfeindlichen Umgangsformen innerhalb der NVA Halt machten, stießen bei der „150prozentigen“ Genossin, deren beide Söhne begeisterte Offiziere waren, auf machtvolle Ablehnung. So etwas wie mich konnte man nicht auf erst sich entwickelnde Persönlichkeiten loslassen.
Als sich mein Scheitern immer klarer abzeichnete, schien mir die Konsequenz klar: Ich war im Kreis der Versager gelandet. Meiner damaligen Partnerin (und dann langjährigen Ehepartnerin) verdanke ich die Chuspe, mich kreuz und quer zu bewerben, also auch für Aufgaben, die anspruchsvoller als Lehrer erschienen. Ich wollte etwas – und ich bekam schon wieder eine Chance. Ohne recht zu ahnen, was mich erwartete, landete ich im Bildungsbereich eines Außenhandelsbetriebes.

Mittwoch, 22. Juni 2011

1. Abschnitt: Wie ich trotz und wegen der DDR (16)

Später musste ich mich bei mehreren Zuhörern fast entschuldigen, dass ich gewagt hatte, so etwas zu erzählen. Dabei hatte ich nie behauptet, dass dies tatsächlich Erlebte eine typische Erscheinung des DDR-“Sozialismus“ gewesen sei. Aber es war nun einmal mein konkretes Erleben, das letztlich für die krummen Wege meinen weiteren Arbeitslebens bestimmend geworden ist.
Zu jener Zeit war ich fest verbunden mit einer Abiturientin aus Berlin. Die hatte außer vielleicht am „Unterrichtstag in der sozialistischen Produktion“ noch nie einen Arbeiter in Natur gesehen (Der Vater war Mediziner, Edelgrundstücksbesitzer usw.). Aber sie hatte einen Staatsbürgerkunde-Unterricht nach Lehrbuch „genossen“. Ergebnis: Zum einen „wusste“ sie, was und wie die Arbeiterklasse ist – und demzufolge nicht ist – und zum anderen war ihr klar, dass jemand, der behauptete, so etwas Unmögliches erlebt zu haben wie ich, nur ein Klassenfeind sein konnte.
Nun war ich ja immer sehr kritisch gewesen. Dass ich mir aber von jemandem, der keine Ahnung hatte, nicht nur sagen lassen sollte, was ich erlebt haben konnte (und was nicht), sondern auch, dass ich ein „Klassenfeind“ war, noch dazu von meiner Bettgefährtin, reizte meinen Widerspruchsgeist. Ich nicht auf der Seite des Sozialismus?! Du wirst schon sehen! Vielleicht bin ich bald selber Staatsbürgerkundelehrer – ich weiß dann wenigstens, wovon ich spreche. Es war nicht nur ein Vogel, den ich gezeigt bekam. Dass ich das spontan Gesagte ernst meinen könnte, war meiner Partnerin nicht klar.
Aber gleich in der nächsten Woche lauerte ich am Arbeitsplatz auf eine Gelegenheit, allein das Telefon benutzen zu können. Die Nummer der Hochschule, die die von mir angestrebte Fachkombination Deutsch und Staatsbürgerkunde anbot, hatte ich mir bereits herausgesucht. Kaum war ich ungestört, wählte ich und fragte, ob noch ein Platz frei sei. Deutsch / Staatsbürgerkunde nicht, aber Staatsbürgerkunde / Deutsch. Na gut, nehm ich auch, wenn´s nur so rum geht. Was muss ich denn tun? Einen Antrag ausfüllen und zum Arzt und man schicke mir alle Formulare zu.
Das war im August. Im September desselben Jahres (!) begann ich mein Lehrerstudium.
Ich will nicht behaupten, dass man dies in irgendeiner Weise verallgemeinern könnte. Ich kann nur schlicht feststellen, dass es bei mir genau so gewesen ist. Die anderen Studenten hatten sich natürlich ein Jahr früher beworben und waren im Mai bereits zu einem Jugendlager zusammengetroffen.
Die Eile enthielt auch einen Bumerang, der dann auf mich zurück fiel: Jeder zukünftige Lehrer wurde planmäßig gründlich u.a. vom Hals-Nasen- und Ohrenarzt gecheckt, nicht nur, aber auch auf die geeigneten Stimmbänder. Die waren aber aufgrund eines Bronchialinfekts bei mir in jenem August nicht zu begutachten. Der Arzt schrieb also an die betreffende Stelle, dass er keinen Befund erstellen könne. Während des Studiums stellte sich dann heraus, dass ich unter normalen Untersuchungsbedingungen nicht zugelassen worden wäre. Aber da ich nun einmal schon dabei war und ja wollte, dann könne ich auch weiter machen.
Wenn ich heute von den vielen Bespitzelungen höre, muss ich laut lachen: So schnell, wie in meinem Fall eine absolut unbürokratische Lösung möglich gemacht worden war, war zu dieser Zeit technisch keine Akte anzufordern und zu sichten.
Selbst hier, wo sich im Nachhinein eigentlich die spontane Entscheidung als Fehler herausstellte, war sie etwas Positives.

Dienstag, 21. Juni 2011

1. Abschnitt: Wie ich trotz und wegen der DDR (15)

Dies etwa war die Ausgangssituation zu jenem Wandel, den ich mehrmals zu erzählen versuchte … was mir allerdings immer nur mit wenig Erfolg bzw. sogar Schaden für mich gelang.
Es reichte natürlich nicht, dass ich eine Flasche auf den Tisch stellte. Spätestens beim zweiten Mal war ich gefordert, wenigstens mit anzustoßen. Trotz aller Vorbehalte gegeneinander kamen bald Gespräche zustande. Eines dieser Gespräche drehte sich um Verschraubungen für Ventile, von denen bei mir buchtechnisch viele vorrätig waren, von denen die Arbeiter aber behaupteten, es seien keine da. Nach einigem Hin und Her stellte sich heraus, dass die Gesuchten bei einem der Aggregate vor der Montage gegen die Originalverschraubungen ausgetauscht würden. Die laut Plan passten nämlich nicht. Je länger wir uns unterhielten, umso spannender wurde die Angelegenheit. Konnte es sein, dass da irgendwo ein Fehler vorlag?
Es lag einer vor. Der war, wie´s aussah, bei der Projektierung entstanden. Plötzlich ahnten wir, dass wir einen Punkt entdeckt hatten, wo wir sowohl Arbeitszeit als auch Material einsparen konnten. (Die abmontierten nicht passenden Verschraubungen wurden bisher als Abfall behandelt.) Da es weder leicht war, den schuldigen Punkt zu finden noch fachgerecht zu formulieren, wo was verändert werden musste, wuchs eine kleine Forschungsgemeinschaft zusammen. Dieselben Menschen, die während der ganzen vorangegangenen Zeit sich eigentlich als gesellschaftliche Schmarotzer aufgeführt hatten, empfanden sich plötzlich als Miteigentümer, die selbstverständlich sparsam mit „ihrem“ Volkseigentum umgehen wollten. Man erkannte sie kaum wieder. Aus den Säufern wurde eine Jugendbrigade. Das war alles das Ihre. Unser Staat, unsere Gesellschaft, Unseres, was wir verbessern konnten. Eine beeindruckende Wandlung, wie ich sie sich sonst nur als Erfindung von Staatsschreibern des DDR-Sozialismus hätte vorstellen können.
Nun ja, die Angelegenheit geriet „natürlich“ später in die Fänge sozialistischer Bürokratie. Plötzlich hatte eine bedeutungslose Kollegin, die das „Büro für Neuererwesen“ gewesen war, etwas Reales zu tun. Und was sie zu tun hatte, war etwas, was dem Ideal des Staates so nahe kam: Dort hatten sich doch tatsächlich richtige Arbeiter mit Angestellten und Angehörigen der Intelligenz zusammengefunden, um einen Arbeitsablauf zu verbessern. Das war zwar spontan geschehen. Von nun an sollte es also endlich einen planmäßigen Rahmen bekommen. Wir sollten gezielt und geplant Verbesserungen erarbeiten. Wir erstellten auch tatsächlich ein Jugendobjekt. Allerdings bestand dessen Hauptkreativität in der Fixierung eines Nutzens, der nie eintreten konnte. Ich weiß nicht, wie klar das den Einzelnen war, aber die Sache begann mir peinlich zu werden. Die planorganisierte Nützlichkeit verwandelte sich schnell in eine Form des sich in die Taschen Lügens. Ich suchte im Unterbewusstsein bereits ein Fluchtmöglichkeit. Sofern die Angelegenheit noch eine Weile positiv blieb, dann insoweit, als dass der Spaß am Tüfteln nicht gleich wieder verschwand. Es war ein Keim aufgegangen, dass man am kleinsten Nebenschauplatz positiv in ein großes Ganzes eingreifen konnte – und dieses große Ganze war UNSERE Gesellschaft. … wäre unsere Gesellschaft geworden ...

Montag, 20. Juni 2011

1. Abschnitt: Wie ich trotz und wegen der DDR ... (14)

Nun hat so eine „Planung“ ja Konsequenzen: Die unmittelbare Montage sollte eigentlich jeweils dann beginnen, wenn alle zu montierenden Teile am Montageplatz vorlagen … EIGENTLICH eine sinnvolle Vorgehensweise. Zur detaillierten Planung gehörte also auch, die Kleinteile nach dem Ausgangsplan aus dem Lager in die Montage zu bringen. Gelegentlich geschah dies auch. Das war natürlich schädlich für die Lagerarbeiter: Im seltensten Fall wurde ja nach dem Ursprungsplan produziert. Wer also gut gearbeitet hatte, musste doppelt arbeiten – weil die planmäßigen, aber nun nicht verwendbaren Verschraubungen usw. nun der tatsächlichen Fertigung im Weg waren.
Das Ergebnis bei den Lagerarbeitern war eine pervertierte Form von Dienst nach Vorschrift: Sie rührten nichts mehr an, wovon sie nicht wussten, dass auch die anderen Bauelemente vollständig vorlagen. Da diese Bedingung mindestens an den ersten 22 Tagen jedes Monats in fast keinem Fall erfüllt war, rührte sich in meinem Lagerbereich in dieser Zeit so gut wie nichts. Da es aber ausgeschlossen war, drei Wochen hintereinander tatsächlich NICHTS zu tun, wurde saufend und Karten spielend beieinander gesessen.
Dieses System hatte noch weitere für die Lagerarbeiter angenehme Nebeneffekte: An den letzten Tagen der Monate „brannte die Luft“, da musste also all das bis dahin Versäumte mit den nun tatsächlich vielleicht vorhandenen Teilen nachgeholt werden. Denn letztlich sollten die Pläne ja sogar übererfüllt werden. (Irgendwelche sind bestimmt wirklich übererfüllt worden.) Die Arbeit war nun in regulärer Arbeitszeit nicht zu bewältigen. Da wurden also Sonderzahlungen locker gemacht, nur damit sich die Arbeiter an Wochenenden im Betrieb sehen ließen – neben den „normalen“ Zuschlägen, versteht sich.
Ich übertreibe hier kaum. Diese Situation war der Normalzustand, als ich meine Arbeit im Produktionsbetrieb aufnahm. Naiv wie ich war, versuchte ich nun, das, was ich umsetzen sollte, umzusetzen. Stieß auf lauter Unmöglichkeiten. Musste, um etwas (oder jemanden) zu bewegen, die Arbeiter mit Wodka Lunikoff „bestechen“. Vieles wurde auf dieser Basis möglich. Von Abteilungsleitern aufwärts war „unten“ normalerweise ja niemand zu sehen.
Man könnte meine Eindrücke „Kulturschock“ nennen. Irgendwie verging mir beim Anblick der die Arbeitszeit totsaufenden Kollegen die Illusion von der Arbeiterklasse an der Macht, die da am „Volkseigentum“ … ja, was? Sie erwarteten auf ihre Weise den nächsten „Schicksalsschlag“ und der hieß im konkreten Fall „Plan“.
Wie gesagt, ich brachte den Lunikoff mit, wenn ich etwas wollte und die Arbeiter, überwiegend junge Leute, kümmerten sich dann um „mein“ Problem. Das wir voneinander nicht besonders viel hielten, verheimlichten wir nicht, aber der „Sesselpfurzer“ kümmerte sich eben und das würdigten sie auf ihre Weise ...

Sonntag, 19. Juni 2011

1. Abschnitt: Wie ich trotz und wegen der DDR ... (13)

Dass ich mich bei der Kosmetik-Reklamationen nicht wohl fühlte, wird man hoffentlich verstehen. Dass ich nun auf einer Planstelle, die auf den sperrigen Namen „kulturpolitisch-künstlerischer Mitarbeiter beim Kreiskabinett für Kulturarbeit … für künstlerisches Wort“ alles besonders gut machen wollte, sieht man wahrscheinlich auch ein. Aber wer das Vorangegangene gelesen hat, ahnt es schon: Der Ausflug in die Welt der Kulturorganisation wurde zum Fiasko. Gleich der erste Auftritt bei einer höheren Charge im Kreis, konkret beim Direktor des einzigen Gymnasiums, führte zu einer handfesten Beschwerde: Arrogantes Auftreten, was ich mir alles angemaßt hatte …
Meine Vorgesetzte zog daraus den für mich nicht wegzuwischenden Schluss, dass ich wohl doch etwas zu grün für die Aufgabe sei und ich mir lieber Praxis in einem Produktionsbetrieb holen solle. Heute wäre dies ein Rauswurf in der Probezeit gewesen, damals gönnte man mir etwa ein halbes Jahr, mir etwas Geeignetes zu suchen. Diese Zeit verbrachte ich überwiegend mit Basisarbeit bei Schreibenden und Laienkabarettisten in Betrieben und mit der Erarbeitung von Muster-Programmen zu allen möglichen Fest- und Gedenktagen. Ein besonderes Vergnügen bereitete es mir, zum „Tag der Nationalen Volksarmee“ ein expressiv antimilitaristisches Programm zu verbreiten. Es war eine besondere Genugtuung, dass nun Danksagungen an das Kreiskabinett kamen. Wahrscheinlich hatte man nichts als trockene Lobhudeleien erwartet.
Nach dieser Erfahrung landete ich in einem der Schweriner Großbetriebe. ORSTA Hydraulik war innerhalb eines „Kombinats“ der Endfertigungsbetrieb für große hydraulische Anlagen. Ich landete in der Materialwirtschaft. Dabei muss man wissen: Eine hydraulische Anlage bestand im Wesentlichen aus drei Grundelementen: einem Motor, einer Pumpe und Zubehör. Mein Blick war die Zuständigkeit für bestimmte Zubehörteile, konkret für Hydraulikventile und Verschraubungen. Vielleicht eine Zwergenperspektive auf die volkswirtschaftliche Problematik. Aber das Problem war einfach: Es gab natürlich einen spezifizierten Plan, welche Aggregate wann in welcher Zahl zusammenzubauen gewesen wären, welche Einzelteile und Baugruppen also zu dem entsprechenden Zeitpunkt hätten zur Verfügung stehen müssen. (Gäbe es im Deutschen noch einen Konjunktiv der gesteigerten Unwahrscheinlichkeit, wäre der am Platz gewesen.)
Antworten auf die Frage, warum die benötigten Aggregate jeweils nicht zur Verfügung standen, drangen nicht bis auf meine Ebene herunter. Dass sie nie so ankamen, wie es geplant war, merkte jeder. Da dann permanent versucht wurde, einen korrigierten Plan vorzulegen, der eventuell umsetzbar gewesen wäre, gab es im Laufe der Zeit eigentlich niemanden im Betrieb, der die anfängliche Planung Ernst nahm. Letztlich lief alles darauf hinaus, gegen Ende der Monate an die Zahlenfront zu werfen, was dann wirklich montierbar war.
In diesem Chaos spielte meine Abteilung eine verständlicherweise eher als untergeordnete Rolle. Jeder sah ein, dass kein Aggregat ohne die passende Pumpe und ihren Motor entstehen konnte. Wenn dann zu erahnen war, welches Aggregat Chancen hatte, tatsächlich noch im laufenden Monat gebaut zu werden, galt es, irgendwie auch noch den Kleinkram dazu zu besorgen. (Mir war so einmal eine abenteuerliche Ganztags-Dienstreise vergönnt, um aus tiefstem Thüringen ein einzelnes Ventil heranzuschaffen.)

Samstag, 18. Juni 2011

1. Abschnitt: Wie ich trotz und wegen der DDR ... (12)

Es folgte eine beruflich extrem wilde Zeit. Mit großer Wahrscheinlichkeit wäre ich dabei in eine heutigen, also „kapitalistischen“ Gesellschaft versumpft. Genauer: Ich hätte so viele Sprünge einfach nicht geschafft. Zumindest hätte ich meinen Lebenslauf da wohl entweder fälschen müssen oder zu akzeptieren gehabt, dass ich als unzuverlässig abgestempelt für die meisten Vorstellungsgespräche überhaupt nicht eingeladen worden wäre. Es mag ja sein, dass manches Scheitern auf den ersten Blick nicht als solches erkennbar gewesen war, aber mehrmals brachte ein Scheitern an einem Punkt mich eine Stufe weiter auf der Entwicklungsleiter. Innerhalb von drei Jahren wechselte ich zwischen drei Berufen in Handel, Kultur und Industrie, wurde ich von der „Nationalen Volksarmee“ nach einem halben Jahr als unverdaulich wieder ausgespuckt und … fand dank der erwünschten Praxiserfahrungen einen Studienplatz als künftiger Lehrer.
Aber von Anfang an:
Es wäre mir sicher möglich gewesen, nach der 8. Klase aufs Gymnasium zu wechseln. Diese Einrichtung hatte aber bei uns den Ruf, nur etwas für strebsame Mädchen zu sein. Außerdem hatte ich keinerlei Berufsziel. Also was ich NICHT wollte, da hätte ich eine Antwort gehabt: Mein Geld mit körperlicher, besonders handwerklicher Arbeit zu verdienen, war NICHT mein Ding. Aber positiv etwas wollen?
So setzte ich, richtiger meine Mutter, das einzige Mal auf „Protektion“: Mein Vater hatte sich also dafür einzusetzen, dass ich einen der drei Ausbildungsplätze zum „Wirtschaftskaufmann mit Abitur“ in seinem Betrieb bekam. Mutter und Schwester waren Verkäuferinnen, also im Handel, Vater in der Großhandelsgesellschaft „Waren täglicher Bedarf“. Die Ausbildung interessierte mich … durchschnittlich. Ich konnte ja aber nicht nichts machen. Ich war also „untergebracht“. Ich durchlief in der Ausbildung die verschiedensten Abteilungen und Bereiche eines Betriebes, der für die gesamte Versorgung Schwerins mit alltäglichen Waren zuständig war. Zwischendurch versuchte ich einmal, mich für eine Laufbahn im Bereich der Schreiberei zu bewerben. Das ging natürlich schief. So wurde ich als kleiner Sachbearbeiter in der Süßwarenabteilung übernommen. Kein Traumjob, aber zumindest kam ich mit den Kollegen zurecht und die mit mir.
Doch das Verderben lauerte schon: die Einberufung zum Grundwehrdienst bei der „Nationalen Volksarmee“. Um die Rolle des „Ehrendienstes“ bei den „bewaffneten Organen“ für Jungen rankten sich viele Legenden. Die wichtigste: Nur wer sich freiwillig wenigstens für drei Jahre verpflichtet, bekäme einen Studienplatz. Ich hatte zwar noch immer keine Vorstellung, WAS ich eventuell studieren könnte, aber dass ich das irgendwann tun könnte, wollte ich mir nicht verbauen. Aber dafür zur Armee?! Eher nicht! Also begann ich die Pflicht-Dienstzeit mit der Absicht nicht aufzufallen. Anstatt dessen leistete ich mir erst einen kleinen Unfall und sorgte dann mit regelmäßigen Fingern im Rachen so lange für Erbrechen, dass ich nach einem halben Jahr sagen konnte, dem Dienst an der Waffe hatte ich mich erfolgreich verweigert. Einziges Problem: Ich war nun ein Jahr zu früh in Freiheit. Der Betrieb musste mich wieder aufnehmen (so war das halt in der DDR), aber der Platz in meiner Abteilung war besetzt. Der einzige freie Platz im Betrieb war einer in der Kosmetik-Reklamationsabteilung. Immerhin lernte ich dort, dass man mit Haarspray den Boden pflanzenfrei machen kann. Klar, dass ich so schnell wie möglich irgendwo anders hin wollte. Ich ahnte noch nicht, welche psychischen Schäden die Armeezeit hinterlassen hatte, wie lange die Schreibblockade anhalten würde, also nahm ich noch einen Anlauf in Richtung Schreiben ...

Freitag, 17. Juni 2011

1. Abschnitt: Wie ich trotz und wegen der DDR ... (11)

Und am Ende der 10. Klasse gab es noch eine „Offenbarung“. Meine Klasse machte eine einwöchige Abschlussfahrt. Zufälle brachten mich dabei mit einem Schüler zusammen, von dem ich kaum mehr wusste, als dass er mehrmals nur sehr knapp die Klassenziele geschafft hatte. Wir unterhielten uns viel. Es begann mit einem Detail: Wir hatten beide begeistert die Folgen von „Raumschiff Enterprise“ im Fernsehen verschlungen. Das wäre ja so ungewöhnlich nicht gewesen. Aber beeindruckend war dann das darüber hinausgehende Wissen und Denken des Jungen, sein … philosophischer Scharfblick. Klar haben wir auch viel einfach „gesponnen“. Aber wichtiger war, dass ich erstmals bei jemandem, den ich weit unter meinem geistigen Niveau eingeordnet hatte – die ganze Schulzeit lang hatte ich das – ein geschlossenes kluges Denksystem erlebte. Eigentlich machte er sich um die Zukunft der Welt mehr Gedanken als ich und er vermochte seine Überlegungen verblüffend klar zu formulieren. Ich bekam das Gefühl, in den letzten Jahren einen Freund übersehen zu haben, weil ich mich innerlich zu sehr über ihn erhoben hatte, um ihn überhaupt zu bemerken.
Das Wichtigste für mich war die Erkenntnis, dass es extrem unterschiedliche Möglichkeiten gibt, über die ein Mensch für andere, zumindest aber für einen anderen „wertvoll“ sein kann. Schon damals begann es mir zu widerstreben, solchen „Wert“zu wichten. Warum soll jemand wegen seiner Besonderheit besser oder schlechter als ein anderer mit dessen anderer Besonderheit sein? Vor allem führten mich unsere utopischen Zeitreisen vor eine bittere Erkenntnis: Es war ein verdammt gewöhnlicher Zufall, dass ich in meine Zeit hineingeboren war und hier mit guten Zensuren brillieren konnte. Von der Herkunft nicht privilegiert graute es mir vor der Vorstellung, in einer vergangenen Zeit zur Welt gekommen zu sein. Meine Art zu denken wäre da abfällig weggewischt worden. Nur die Fähigkeit der Muskelkraft wäre gefragt gewesen. An der aber haperte es. Oder in einer vergangenen Schule. Beim Auswendiglernen war ich schwach. Ich wäre also dort ein „schlechter“ Schüler gewesen. Wer konnte mir sagen, welche Qualitäten in 100 Jahren erwünscht waren – die ich vielleicht hätte, vielleicht aber auch nicht. Mein vorzeigbares Zeugnis war also nicht objektiv, sondern dem Zufall geschuldet, dass ich Fähigkeiten zu meinen Besonderheiten hatte zählen können, die gerade erwünscht und messbar gewesen waren.
Und auch bei der Einschätzung der „Persönlichkeit“ gab es breit gefächerte Unterschiede. Wir Schüler hatten uns einen Sport daraus gemacht, in den letzten Schultagen der Jahre das Klassenbuch zu durchstöbern. Dort trug dann jeder Lehrer für jeden Schüler die „Kopfnoten“ ein: Betragen, Mitarbeit, Ordnung … Gesamtverhalten. Bei „Betragen“ erhielt ich vom Klassenlehrer Dreien oder Vieren. Nicht wenige andere Fachlehrer werteten „sehr gut“. Aber ich war doch derselbe Mensch?! (Nur eben nicht pflegeleicht und normgerecht.)
Klar war, ich fiel aus dem Raster. Dafür gab es mehrere Erklärungsmöglichkeiten: Entweder war das Raster falsch oder es war falsch, mit einem „Raster“ zu arbeiten oder … ich hätte mich endlich richtig anpassen müssen an das, was Andere von mir erwarteten. Gelegentlich versuchte ich das. Aber es ging nicht. Ich hätte mich selbst verleugnen müssen.

Donnerstag, 16. Juni 2011

1. Abschnitt: Wie ich trotz und wegen der DDR ... (10)

Nachher erfuhr ich, dass einige der so eifrig engagierten Autoren für das Ministerium für Staatssicherheit Berichte geschrieben haben. Sie hatten viele zu schreiben gehabt über uns. Nein. Ich finde es nicht gut. Menschlich traurig. Aber bei denen, von denen ich es hörte und die ich selbst erlebt hatte, wusste ich: Aus niederen Beweggründen, z. B. weil sie einen „Job“ machten, haben sie es nicht getan. Sie waren wirklich überzeugt, mit ihrem Tun dem „Sozialismus“ zu nutzen. Dass sie ihm letztlich eher schadeten, hätte ich damals nicht verstanden.
Aber zwei Erlebnisse brachte meine „normale“ Schulzeit noch, die mein Menschenbild nachhaltig veränderten.
Bis zur 8. Klasse hatten wir eine außergewöhnliche Mitschülerin unter uns, die dann in die „erweiterte Oberschule“ wechselte, also das, was heute „Gymnasium“ heißt. Sie war „rundum“ entwickelt. Es gab also nichts, was sie nicht wenigstens gut gekonnt hätte. Sehr überwiegend sehr gut war sie, wenn auch nicht „genial“. Den besseren Jungen waren die genialischen Ausrutscher überlassen. Zwar war ich zum Beispiel ehrgeizig und wäre lieber besser gewesen. Aber irgendwie war mir klar, dass ich mich nie zeugnisrelevant wesentlich verbessern konnte. Das wäre Zufall gewesen. Mir blieb nur eine Freude: Mitschüler, die eigentlich „leistungsschwach“ waren, zu guten Leistungen zu coachen. Also sie nicht abschreiben lassen, sondern sie zu Ergebnissen zu führen, die „man“ ihnen nicht zugetraut hätte. Das Gefühl war kaum zu überbieten, wenn ich mich heimlich als „Vater“ einer guten Note Anderer fühlen konnte. Da konnte mir niemand etwas vorwerfen – Egoismus, Strebertum, was auch immer Negatives (das Gefühl, ein schlechter Mensch zu sein, verfolgte mich ständig ...)
In der Neunten trimmte ich also bei einer solchen Gelegenheit einen Mitschüler, der ein total gestörtes Verhältnis zur Mathematik hatte(wo mir noch ein „Genie“-Rest erhalten geblieben war). Nun fiel ich in dem Fach immer noch aus dem Rahmen: Extrem langsam beim Schreiben konnte ich es mir nicht leisten, die einzelnen Teilschritte zu lernen und zu verwenden – ich verwendete abgekürzte Wege, die bei „normalen“ Schülern nicht akzeptiert worden wären. Mir waren umfangreiche Lernschritte suspekt. Was also sollte ich nun dem Mitschüler erklären? Den vorgegebenen Weg Schritt für Schritt? Ich entschied mich für die logischen Gedankenfolge, die ich entwickelt hatte. Immer wieder testete ich, was davon „haften geblieben“ war. Dann gemeinsames Rechnen. Bei jedem kleinen Gedanken fragte nun er unsicher nervend „Soooo?“ Bis ich dann irgendwann erklärte, er bekäme jetzt eine Aufgabe, die er bis zum Schluss allein lösen müsse. Nachher prüften wir dann, warum eventuell was falsch sei. Mehrmals versuchte er, mich zu einem Blick auf sein Blatt zu animieren. Endlich bot er mir eine Lösung. Beim ersten Blick schrak ich zurück. 14 Schritte waren normal, er hatte sechs gebraucht, sodass ich erst rief, so ginge es nicht … Bis ich feststellte, dass er das, was ich ihm an Zusammenhängen erklärt hatte, so umgesetzt hatte, dass ein neuer Rechenweg entstanden war. Den hatte er entwickelt. Plötzlich zerfiel alle meine „genialische“ Überlegenheit. Nur Geduld war geblieben, sich einem Problem eben anders als „normal“ zu nähern. Ein „schwacher“ Schüler war also eigentlich keiner, sondern nur einer, der andere Anregungen zum Denken brauchte, als er sie üblicherweise erhielt. In diesem einen Fall hatte ich solch eine Anregung gefunden. Welch ungeheures Potential musste in den Menschen stecken, wenn man sich ihnen geduldig annahm! (Ich erlebte in der 8. Klasse noch einen Mitschüler, der schlechte Zensuren schreiben musste – seine Mutter verlangte das – damit er am Schuljahresende abgehen und Geld verdienen durfte.) Erstmals erschien mir „Leistung“ als Produkt von Zufällen und nicht als „guter“ oder „schlechter“ Schüler.

Mittwoch, 15. Juni 2011

1. Abschnitt: Wie ich trotz und wegen der DDR ... (9)

Durch jene sehr wilden, individualistischen Reisen durch die Weltliteratur veränderte sich sehr unbemerkt und unterschwellig mein „Blick“. Ich war eigentlich „nur“ ein Junge, der zu viel geschmökert hatte. Zwar in keinem Karl May, aber bei Lieselotte Welskopf-Henrich, Jules Verne und überwiegend in Dingen, die nicht für einen 11-, 12jährigen gedacht waren.
Und die DDR bot in der Folgezeit besondere Chancen zur Befriedigung meines wirren Kunsthungers: Jugendstunden und Theaterkreise. Auf die Mischung kam es an. So wirr, wie ich ahnungslos vor der „Weltkultur“ stand, so gemixt wurden uns monatlich verschiedenartige Erlebnisse vermittelt. Opern, Schauspiele, Ballett, Heiteres … Das hatte einen eigenen Reiz. Nein, keinen hoch kulturellen. Da bemühte sich unsere Musiklehrerin vergeblich um eine vielleicht angemessene Einführung. Aber die ganze Klasse ging gerne auch in Kunstgenüsse, die sie kaum verstand, denn was hätte es für einen besseren Vorwand gegeben, abends „die Sau raus lassen“ zu dürfen? Nicht jedem wäre mit 14 erlaubt worden, nach 22 Uhr durch die Straßen zu ziehen. Aber nach dem Theater …
Wie viel es bei den Einzelnen Positives bewirkt hat – wer vermag das einzuschätzen? Aber jeder hatte die Chance, seine Sinne zu schulen. Und das Staatstheater war gut. Dass dies in irgendeine Weise ein „soziales“ Problem sein könnte (außer im Sinne unseres Gruppenzusammenhalts), wäre keinem eingefallen. Die Eintrittskarten kosteten kaum mehr als ihr Druck gekostet hatte …
Dann setzte meine erste „Schreibphase“ ein. Der Junge wollte Gedichte verfassen. Sehr weise, das Wesen der Welt erklärend und so hölzern holpernd, dass wirklich nur ich selbst von mir überzeugt sein konnte. Aber es gab die verschiedensten Fördermöglichkeiten. Zwar war es natürlich schon komisch, in einem Zirkel schreibender Arbeiter der deutschen Post dabei zu sein, in dem kaum ein Mitglied etwas mit der Post zu tun hatte. Aber ich konnte verschiedene Denk- und Betrachtungsweisen beobachten. Heute bestreitet die Leiterin des Zirkels schreibender FDJler beim Haus der Jugend (jede Einrichtung, die etwas auf sich hielt, förderte verschiedene kulturelle Aktivitäten), dass sie sooo laut ihre Begeisterung geäußert hatte, als ich zum ersten Mal kein „Gedicht“ sondern eine den erzählenden Helden (der viel Ähnlichkeit mit mir hatte) auf die Schippe nehmende kurze Erzählung vortrug. Das, genau das möge ich fortführen (und nicht diese unpoetischen Gedichte). Da aber war ich schon zum ersten Mal beim zentralen Poetenseminar der FDJ gewesen – in den Räumen des Schweriner Schlosses und draußen in der Neubausiedlung. Begegnungen mit kritischen „richtigen“ Schriftstellern, engagierten Menschen, die alle dafür eintraten, schärfer hinzusehen, „mit dem Herzen“ zu sehen, sich einzubringen. Begegnungen wurden organisiert, die uns die Widersprüche von Anspruch und Wirklichkeit dessen, was Sozialismus zu sein für sich in Anspruch nahm, vor Augen führte. Fast noch Kinder erlebten wir die zerplatzende Illusion zukunftsfähigen Bauens. Aus der Not geboren, schnell ein Problem zu lösen, also jedem, der Wohnraum brauchte, welchen zu geben, wurden Siedlungen auf die Wiese gesetzt, die nach etwa 25 Jahren planmäßig durch etwas Neues, Richtiges hätten ersetzt werden sollen – was dann natürlich nie geschah. So erzählte es einer der Projektanten des Dreesch.

Dienstag, 14. Juni 2011

1. Abschnitt: Wie ich trotz und wegen der DDR ... (8)

Solche Erlebnisse werden heute zum „Zwangstopfen“ verballhornt. Unabhängig von der tatsächlichen Bedeutung unserer gesammelten Eicheln bleibt doch die Frage, wie verdammenswert es sein soll, wenn Kindern das Gefühl der Solidarität vermittelt wird. Ganz unmittelbar erlebten wir, dass es schwächere Wesen gibt, die durch unsere solidarische Hilfe überlebten. Okay … die richtige Vorbereitung auf eine Welt einzusetzender Ego-Ellenbogen war es nicht … aber genau darauf sollten wir auch nicht vorbereitet werden.
Allerdings ... solche Solidaritätsaktionen wie die für Angela Davis hatten zwei Seiten: Die agitatorische, dass doch eine Kommunistin unschuldig sein müsse (was sich im konkreten Fall juristisch belegen ließ), aber auch eine „rein“ menschliche: Stellt euch schützend vor Menschen, die zum Opfer legaler (oder halb legaler) Ungerechtigkeit werden könnten. Eine gute Sache wird doch nicht allein dadurch „schlecht“, dass sie mehr oder weniger „staatlich verordnet“ wird. Ich finde es heute peinlich, wenn ausgerechnet mit diesem Ausdruck „Linke“ den DDR-Antifaschismus verunglimpfen. Am System des damaligen (nicht) „realen Sozialismus“ gibt es Unmassen an Kritik-Punkten. Dass sich ein ganzes Volk mit den wenigen aktiven Antifaschisten, die das faschistische Terrorregime überstanden hatten, identifizieren durfte, halte ich für einen dankenswerten Zug.
Wie gesagt, ein Großteil der Möglichkeiten, die uns Kindern vor die Nase gedrückt wurden, passten trotzdem nicht zu meiner sich entwickelnden Persönlichkeit:
Fahnenappelle waren mir kleinen Anarchisten schon des Einordnens wegen suspekt. Als dann im Unterricht Friedrich Wolfs „Kiki“ zur Lektüre gehörte, wurde diese Geschichte sofort eine meiner allerliebsten. Die „Haltung“ des Hundes, die „Würde“ des Zwangsappells mit seinem Jaulen lächerlich zu machen, entsprach so vollständig meinem Verständnis – ich starb sozusagen im Kreis der trauernden Gefangenen und fühlte mich zugleich als eine der ihren. Dabei begriff ich erst viel später, dass die „Bösen“ keine „echten“ Faschisten gewesen waren, sondern sich ihnen Andienende. (Allerdings hielt sich die Zahl der militaristischen und Appell-Veranstaltungen, an denen ich habe teilnehmen müssen, in engen Grenzen, auch und vor allem später.)
Gemeinschaftliches Basteln und Malen und Sport waren mir der blanke Horror. Weil ich es nicht konnte, wollte ich es nicht. Als ich diesen Zusammenhang später immer besser verstand, verstand ich auch meine Mitschüler immer besser, die Grauen vor den Mathestunden empfanden, weil sie mit lauter Unlösbarem zusammenstießen.
Dafür war das Pionierhaus, bzw. darin die Pionierbibliothek für mich das Paradies. Das Pionierhaus wegen seiner vielen Möglichkeiten, die man auch einfach auslassen konnte, die Bibliothek … Ich glaube, schon in der 5. Klasse hatte sie mir kaum noch Neues zu bieten und ich besuchte eine „normale“. Der für mich normale Leseschnitt waren 4-5 „richtige“ Bücher pro Woche. Ich las also kaum Kinderbücher, sondern reiste in die Welten von Maupassant, Balsac, Dickens und vielen anderen. Ich hatte zwar absolut keine Ahnung, was eine Nutte sein könnte – ich empfinde heute weder mein Unwissen als Mangel als auch, dass es in meinem Schwerin real keine gab – aber empfand doch tiefe Abneigung gegen Menschen, die auf der einen Seite ihre Mitmenschen gebrauchten … und die dann dafür dünkelhaft verachteten. („Fettklößchen“)

Montag, 13. Juni 2011

1. Abschnitt: Wie ich trotz und wegen der DDR ... (7)

Aber noch etwas zeitlich zurück – zum einen, weil mir das auf´s Stichwort solidarisch einfiel, zum anderen, weil dabei sozusagen kindlich-naive Keime meiner späteren „kommunistischen Visionen“ gelegt wurden.
Aus dem, was ich bisher erzählt habe, müsste klar geworden sein, dass ich nie ein extrem kommunikativer Typ gewesen bin oder gar ein „Charismatiker“. Es gab aber eben Situationen, wo positive Gefühle vermittelt wurden. Dazu gehörten einige der Veranstaltungen der Kinder- und Jugendorganisationen.
Nein, nicht die kirchlichen. Meine Mutter hatte mich zur „Christenlehre“ in die Kirche geschickt, wo uns Geschichtchen erzählt wurden, und wenn wir brav waren, wurden wir mit Bildchen (heute würde man wohl „Sticker“ sagen) belohnt wurden. Für die Anregung meiner Fantasie waren diese Nachmittage wahrscheinlich sogar positiv. Aber für mich 8-/9-jährigen war es abstoßend, dass der Pfarrer (?) sie uns Kindern als wahre Geschichten darbot. Ich hätte da noch nichts von der „Wahrheit“ in Gleichnissen verstanden, empfand es aber als Beleidigung, dass jemand erwartete, ich würde Märchen für Wirklichkeit nehmen. Das war dann Grund für entschiedenen Protest bei meiner Mutter und fast das Ende meine Kontakte zu kirchlichen „Würdenträgern“. (Später empfand ich hingegen die Gastfreundschaft von Kirchenleuten auf meinen Tramptouren als wohltuend.)
Anders war das bei manchen Pioniernachmittagen. Die nachhaltigsten waren jene Ausflüge, bei denen wir Eicheln und Kastanien für die Tierparktiere (und zum Basteln) sammelten. Keine Ahnung, ob unsere Eicheln den Tieren dort wirklich das Überwintern erleichtert haben. Heute würde ich sagen, das war auch nicht das Wichtigste. Viel wichtiger war etwas Anderes: Wir hatten das Gefühl, etwas Nützliches, ja Wertvolles zu tun, was zugleich richtig Spaß machte. Das heißt, das Sammeln der Eicheln (und das Werfen nach Anderen) hätte auch OHNE einen höheren Sinn Spaß gemacht, es war ein vergnüglicher Zeitvertreib, das Gefühl, sozusagen unserem Patenschwein das Leben zu erhalten, machte uns aber erst richtig stolz auf eine eigene Leistung. Ich hätte da nicht an „Kommunismus“ gedacht, aber hat man nicht auch als Erwachsene Anspruch auf kindliche Freude an der eigenen Nützlichkeit? Wird sie einem nicht erst die Erfahrung von „allgemeinem“ Egoismus vergällt? Als positive Erfahrung haftet so ein Erleben natürlich nur (?) dann, wenn man seinen Erfolg greifbar gemacht bekommt. Wir waren natürlich eifrige Tierparkbesucher, wo uns der Nutzen unseres Tuns von kompetenten Personen bestätigt wurde. (Mir scheint es selbstverständlich, dass Kinder, denen solche greifbaren Nützlichkeitserlebnisse versagt blieben, tendenziell ein Stück weiter zu individualistischen Egoisten „erzogen“ werden – ohne eigentlich erzogen zu werden.)  

Sonntag, 12. Juni 2011

1. Abschnitt: Wie ich trotz und wegen der DDR ... (6)

Meine Sicht der deutsch-deutschen Fragen stammte sowieso nicht aus Schulunterrichtsquellen. Schwerin war glücklicherweise kein „Tal der Ahnungslosen“. Schon früh bezog ich die Nachrichten aus alle Welt nicht rotgefiltert aus der „Aktuellen Kamera“ sondern gegenmanipuliert von der „Tagesschau“. Allerdings hatte ich eben schon gelernt, dass es keine „Nachrichten“ an sich gibt. Mit etwas kritischem Blick gab es dort tatsächlich das zu entdecken, was der so verschrieene „Sudel-Ede“ Schnitzler aus den Westsendungen extrahierte. Auch an der Stelle war ich früh Außenseiter: Mir gefiel der Typ, der in der trüben Brühe der anderen Seite fischte – und mir schien logisch einleuchtend, dass das Salz (grins: Glutamat usw.), das vom Gewicht her den kleinsten Teil solcher Brühe ausmacht, doch dessen Wesen war – sonst wäre sie ja Wasser.
Ganz unschuldig an meinem Verständnis „kapitalistischen“ Denkens war sicher auch nicht, dass alle Verwandtschaft im Westen lebte. Langsam der kindlichen Überheblichkeit entwachsend entwickelte ich ein feines Gespür für Herablassung und Überheblichkeiten anderer Leute. Es mag ein Stück Selbsthass gewesen sein, von fremden Hochnäsigkeiten besonders stark abgestoßen zu sein.
Dazu kamen die Westpakete. In meine Erinnerung eingebrannt bleibt der Geruch ranziger Rama. Es waren noch mehr „Lebensmittel“ drin, aber auch Sachen zum Anziehen, die schon (ab)getragen waren. Ich empfand es als beleidigend, sah zwar ein, dass Geschwister und Eltern Beziehungen zueinander haben … aber sah eigentlich nicht ein, warum das Zeug nicht zurückgewiesen worden war. Meine Mutter war eine kriegspragmatische Frau. Sie konnte immer alles gebrauchen, filterte Notwendiges aus ihrer Verkäuferinnen-Tätigkeit und unserem Garten heraus, sodass wir nicht nur keinen Hunger kannten, sondern uns ausgesprochen abwechslungsreich ernährten (und auf ranzige Margarine bestimmt nicht warteten). Erst viel später erfuhr ich dann die Hintergründe jene Sorge für uns armen „Zonenbewohner“, was mein Bild vom im Westen geförderten Eigennutz nur bekräftigte:
Meine Großeltern (also die Eltern meine Mutter) hatten in kleinbürgerlichen Verhältnissen in der Nähe von Breslau gelebt. Dies reichte in der 20er Jahren zu einem kleinen Häuschen. Dann kam die Flucht. Im Westteil Deutschlands wurden sie Flüchtlinge, im Ostteil wir Mitbürger. Als Flüchtlinge bekamen sie für ihren verlorenen Besitz eine Entschädigung – diese nahmen sie „treuhändlerisch“ auch für die Verwandte außerhalb der „freien Welt“ entgegen. Akribisch verrechnete meine Tante die Paketinhalte mit diesem „Treuhandvermögen“ meiner Mutter – und natürlich wurden die Pakete als Unterstützung der bedürftigen Verwandtschaft in den Ostgebieten steuermindernd (pauschal, Masse beachten!) geltend gemacht. Vom Ergebnis war ihr letztlich eine „Geldwäsche“ zu ihren Gunsten gelungen. Man hätte es Beschiss nennen können. Zumindest solidarisch (grins) war es nicht.

Samstag, 11. Juni 2011

1. Abschnitt: Wie ich trotz und wegen der DDR ... (5)

Sie verführte mich damit zu einem Trugschluss: Voreiliger Weise dachte ich, so sei politische Bildung. Im Geschichtsunterricht wurde ich eines Besseren belehrt.
Der Geschichtslehrer war ein sehr autoritär auftretender Mann. Er gehörte zu den wenigen Lehrern, die nicht bereit waren, ein positives Verhältnis zu unserer Klasse zu entwickeln. Ich will nicht behaupten, dass er einem unserer Mitschüler verübelte, ihn bereits in der 5. Klasse laufend korrigiert zu haben. Der Junge war eben Urzeit-Freak, wusste also viel vom Leben der Urmenschen und stellte damit die vorgebliche Unfehlbarkeit der Lehrer schon früh in Frage. Nein, der Geschichtslehrer hatte eine große Liebe: seine optisch faszinierenden Tafelbilder. Mit feine Schrift verteilte er über die ausgeklappte Tafel (mitunter einschließlich Rückseite) Kästchen, zwischen denen er Pfeile fliegen ließ. Vorher – nachher, Ursache – (Anlass) – Wirkung …
Extrem schematisch, obwohl nicht einmal undialektisch. Von der Ursache ein dicker Pfeil zur Wirkung und darunter dann der dünne Pfeil, der besagen soll, dass das, was eigentlich Folge war, verändernd auf die ursprüngliche Ursache zurück wirkte und dass es eben Haupt und „Neben“-Gründe derselben Sache gebe.
In diesem Fach wurde erstmals laut das Wort „Kommunismus“ ausgesprochen.
Nun war ich sozusagen mathematischer Logiker. Über den Begriff wusste ich wenig. Eigentlich nur, dass das eine „klassenlose Gesellschaft“ wäre, in der es „keinen Staat“ gäbe. Mit Klassen konnte ich wenig anfangen, Staat aber, da gehörten also mindestens all die Gewaltinstrumente dazu. Die hat jeder, um sich selbst (gegen den / die Anderen) zu verteidigen. Würde also eine Seite ihren „Staat“ verschwinden lassen, wäre der Weg der anderen Seite frei, die eigene Macht zu erweitern. Also kann es einen „Kommunismus“ auf der Welt auf jeden Fall nicht geben, wenn es zugleich noch Kapitalismus gäbe.
Diese Schlussfolgerung habe ich auf jeden Fall ausgesprochen, zur logischen Herleitung kam ich nicht mehr ganz. Zu meine Wortwahl kann ich natürlich nichts mehr sagen. Aber auf jeden Fall bekam ich das Wort verboten. Ein Schwall von Flüchen wurde über mich ausgeschüttet. Die übelste Bezeichnung, mit der ich versehen wurde - mit der ich aber nichts anzufangen wusste, außer dass es des Tonfalls wegen etwas Grauenvolles sein musste – war „Trotzkist“. Offenbar war das also noch etwas Schlimmeres als Faschist und ich hatte gerade die schlimmstmögliche Feindpropaganda in den Raum geworfen.
Alles nur wegen einer absolut primitiven logischen Schlussfolgerung, hinter der ich, wenn auch mit einem breiteren Spektrum von Begründungen, auch heute noch stehe. Wenn ich dem entsetzten Doggen-Lehrer noch an den Kopf geworfen hätte, dass also der entfaltete „Kommunismus“ keine Politik der friedlichen Koexistenz kennen könne – rein logisch, weil dies ja eine Beziehung zwischen Staaten sei, die es per Definition nicht mehr gebe – wäre entweder er mit dem Notarzt oder ich in Ledermantelmann-Begleitung aus dem Klassenraum geführt worden.
Natürlich habe ich mir bei diesem Lehrer weitere eigene Schlussfolgerungen verkniffen.

Freitag, 10. Juni 2011

1. Abschnitt: Wie ich trotz und wegen der DDR ... (4)

In der 7. Klasse begann dann unsere vorsätzliche „Bewusstseinsbildung“ in Form des Staatsbürgerkunde- und Geschichtsunterrichts. Rückblickend muss ich allerdings einräumen, dass die ethischen Normen, die nun Namen bekamen, bereits vorher geprägt waren, weil sie uns vorgelebt oder eben nicht vorgelebt wurden. „Gut“ oder „Böse“ ist sozusagen sowohl greifbarer als auch abstrakter als „Sozialismus“ und „Kapitalismus“. Die Leistung der entsprechenden Unterrichtsfächer bestand also nicht darin, irgendetwas wirklich ideologisch vermittelt zu haben. Allerdings wurde z.T. Vorhandenes gefördert bzw. gebremst.
Vielleicht hätte ich ein freundlicheres Verhältnis zur „Nationalen Volksarmee“ der DDR entwickelt, aber die Verhältnisse waren eben nicht so. Meine Sportbegeisterung war nie so groß, dass mich da etwas gelockt hätte. Emotional ein egozentrischer Anarchist war mir jegliche Beziehung von unterordnendem Gehorsam zutiefst zuwider – nicht nur, aber auch, weil ich mich hätte unterordnen sollte. (In einem krankhaften Anfall von Übermachtssadismus spielte ich meinem engsten Freund gegenüber einen SS-Mann: Ich zwang ihn, den schwarz Gelockten, durch brutale Gewalt dazu „Ich bin eine dumme Judensau!“ auszurufen, um frei zu kommen … und ich könnte nicht sagen, vor wem ich mich nachher mehr ekelte: vor ihm, der sich derart demütigen ließ, oder vor mir, dass ich zu so etwas fähig gewesen war …) Rund wurde meine Grundhaltung zum Thema Armee dann eigentlich erst dadurch, dass es in der Klasse bei den Auseinandersetzungen mit der Staatsbürgerkundelehrerin einen einzigen Schüler gab, der sich sichtlich bemühte, die Aussagen zu finden, die voraussichtlich die Lehrerin zu hören hoffte. Dieser Speichellecker mit mäßigem geistigen Niveau strebte an, Offizier zu werden. Ich konnte ihn mir als Typ einfach zu gut als Stiefel in einer preußischen Untertanensoldateska vorstellen. Das schon vorher ausgeprägte Bild, Körperkraft zeigten die, denen es an Geisteskraft mangelte, wurde untermauert – nur eben auf höherer Ebene. (Ich muss also Verständnis für Menschen haben, die ihre engen eigenen Erlebnisse zu unzulässig Pauschalurteilen verallgemeinern.)
Aber die Stabü-Lehrerin hat auf ihre Weise bei mir etwas bewegt. Im Nachhinein tut sie mir eigentlich Leid. Es war mir ein teuflisches Vergnügen, den ungeliebten „Rotlicht“-Unterricht zu sprengen. Hier konnte ich die ganze spitzfindige Rafinesse boshafter Sprachanalyse an die Front werfen. Ich hatte die meisten Schulbücher zu Beginn der Unterrichtsjahres schon überflogen. Im Staatsbürgerkunde-Lehrbuch fiel mir dabei etwas auf: Außer bunten Bildchen gab es Kästchen mit Zitaten der „Klassiker“ des Marxismus-Leninismus, die ich sozusagen als die Verkündigung Moses ansah (so waren sie wohl auch ausgesucht und gemeint), während der eigentliche Text das profane Bla-Bla war. Da Gute daran: Es ließen sich in dem profanen Zeug Widersprüche zu Gottes, Pardon: Marxens, Kernsätzen in den Kästchen entdecken. Also bereitete ich so einige Stunden vor. Ich sprengte sie mit der Absicht zu beweisen, dass das, was wir als wunderbare Wirklichkeit unserer größten DDR alle Zeiten erklärt bekommen sollten, gar nicht das war, was der große Marx sich als sozialistische Gesellschaft vorgestellt hatte. Widerspruch als Gehirnsport.
Alle intelligenten Mitschüler verfolgten die Diskussionen mit Vergnügen und unterstützten mich nach bestem Wissen, die weniger intelligenten freuten sich, dass die Stunden nicht als langweilige Lernstunden versandeten. Nur jener Heßling-Möchtegern-Offizier mühte sich um Unterstützung der Lehrerin. Die aber war vor allem von uns Jungen begeistert. Weil wir so offen Interesse zeigten, ließ sie ihre Stundenvorbereitung in der Tasche und versuchte, unser Denken zu lenken. Argumente wurden nicht niedergeschlagen und „Erklärungen“ vermittelt, wie wir etwas sehen sollten, sondern sie versuchte, uns die Widersprüchlichkeit von Vorgängen begreiflich zu machen. Nicht einfache Antworten, sondern Bewegung und unter der Oberfläche des offen Sichtbaren gebe es erkennbare Zusammenhänge, um deren Aufdeckung man sich bemühen muss – das nenne man im Sinne von Marx zu handeln und das könne sogar Spaß machen.

Donnerstag, 9. Juni 2011

1. Abschnitt: Wie ich trotz und wegen der DDR ... (3)

Mit dem Verschwinden des Standardopfers, an dem sich meine Mitschüler ihren Schulfrust abreagiert hatten, begann die Suche nach neuen Opfern. Wir waren eine Klasse mit einem Überschuss an Jungen und die körperlich etwas stärkeren begannen nun die Jagd auf körperlich Schwächere. Damit geriet auch ich wieder ins Visier. Allerdings hatte sich die Situation innerhalb der Klasse verändert. Es waren nicht nur gelegentlich ein paar Kinder in meiner Nähe, um meine Blödeleien zu hören, sondern ich hatte einen Kreis von kindlichen Partnerschaften: Einen Freund, der an mir hing wie Watson an Holmes, und noch ein paar Andere, durch die ich mich wie ein Bandenchef fühlen konnte. Ausnahmslos waren es aber alles körperlich nicht überlegene Jungen. Die gegenseitige Hilfe bestand u.a. darin, dass ich bei den Hausaufgaben half und dafür meine Kunst-Werke für den Zeichenunterricht vorbereitet bekam, sodass eine Vier in Zeichnen nun selten wurde (Es waren manchmal sogar Zwei dazwischen – Einsen nicht, denn ein paar Striche stammten von mir.) Meine logische Lektion: Andere konnten etwas, was ich nicht konnte, und umgekehrt. Wenn dies auch offiziell nicht erwünscht war, eigentlich sogar als Betrug bewertet wurde, so stand doch fest, dass die gegenseitige Nutzung unserer Stärken für alle Beteiligten Vorteile brachte. Es machte mir dabei wenig aus, dass ich mehr einbrachte als ich herausholen konnte.
Das Problem der Prügel, des Mobbings der Schwachen war damit aber noch nicht gelöst. Es fanden nämlich immer ausreichend körperlich Überlegene zusammen, um ausreichend Schwächere zu quälen. In die Gruppe der „Schwächeren“ gehörte sogar ein Junge von hohem Körpergewicht, dem es aber deshalb an Schnelligkeit und Beweglichkeit mangelte. Was mich am meisten deprimierte: Die da prügelten waren „leistungsschwache“ Schüler, die sich auf solche Weise ihr „Siegerlebnis“ aus der Schule holten, die Betroffenen jedoch versuchten – letztlich meist erfolglos – sich im Bewusstsein der bevorstehenden Niederlage der körperlichen Auseinandersetzung zu entziehen … sie liefen also davon. Eigentlich ging dies so bis Klasse 7. Und dann passierte etwas, was ich im Nachhinein vielleicht überbewertet und fehlinterpretiert habe. Aber es ist eben genau so passiert:
In einer großen Hofpause war es mir gelungen, alle die eigentlich auf „meine“ Seite gehörten zu sammeln. Es kam zur Schlacht. Diesmal blieben wir nicht nur (wie sonst eigentlich auch) zahlenmäßig überlegen, sondern wir kämpften auch geschlossen. Und wir beendeten diese Hofpause als Sieger. Womit ich nicht gerechnet hatte, trat ein: Von kleinen „Kappeleien“ (wie das meine Mutter genannt hätte) abgesehen, die ja wohl überall vorkommen, trat ein dauerhafter Friede ein. Nicht, dass wir nun alle Freunde geworden wären, aber das große Problem, dieses permanente Massenmobbing war zu Ende.
Es ist natürlich nicht auszuschließen, dass wir insgesamt reifer geworden waren und diese „Schlacht“ nur Anlass und nicht Grund war, aber auf jeden Fall erlebte ich in dieser Schülerrolle die Siegpotenz von Underdogs, sobald sie als solidarische Gemeinschaft kämpften.
Ein Anhänger körperlicher Gewalt bin ich damit nicht geworden. Allerdings erlebte ich recht handfest, dass es Situationen gibt, bei denen sie notwendiges Mittel ist, um Gewaltverhältnisse zu beenden. Das hatten wir erreicht – und darauf bin ich noch Jahrzehnte später stolz.

Mittwoch, 8. Juni 2011

1. Abschnitt: Wie ich trotz und wegen der DDR zu meinem ganz individuellen Kommunismus fand (2)

Allerdings war dieses erste Dorfschuljahr auf der anderen Seite zutiefst demütigend: Gestartet mit der Empfehlung der Dorfweisen, die ersten Schuljahre wegen Unterforderung zu überspringen und gleich mit Klasse 4 zu beginnen, erlebte ich eigene Unfähigkeiten besonders schmerzhaft. In Sport war ich nicht gut, in Fächern, die ein Minimaß an handwerklichem Geschick voraussetzten, war ich etwa so sehr Untermaß wie im Rechnen (noch) Übermaß. Dies wurde durch einen pädagogischen Tiefschlag noch potenziert: Genetisch war (bin) ich Linkshänder. In den ersten Schulwochen litt ich extrem. Ständig wurde ich darauf hingewiesen, doch bitte die „richtige“ Hand zu benutzen. Irgendwann hatte ich gelernt, der Lehrerin an den Augen abzulesen, dass ich meinen Stift gerade in der „falschen“ Hand hielt. Allmählich schrieb ich überwiegend mit rechts. Lange konnte ich allerdings rechts und links nicht unterscheiden und ich habe es nie geschafft, wenigstens 50 Prozent der Schreibgeschwindigkeit meiner Mitschüler zu erreichen und meine „Handschrift“ blieb eine Zumutung für alle, die etwas von mir Geschriebenes lesen mussten.
Die Krone der Demütigung erlebte ich am Ende des ersten Schulhalbjahres. Die Lehrerin ließ uns in der Reihenfolge unseres Gesamtzensurendurchschnitts antreten. Ich Wunderkind war dabei nur Siebenter.
Nicht unwichtig mochte für meine „spezifisch kommunistische“ Persönlichkeit noch gewesen sein, dass ich nach der abgebrochenen Kindergartenzeit allein zu Hause auf die Rückkehr meiner Mutter von ihrem Halbtagsjob warten musste. Grübelnd, beobachtend und … lesend. Ich entwickelte mich zu einem Außenseiter, Beobachter und Gerechtigkeitsfanatiker, wobei gerecht war, was ich richtig fand.
Keine Ahnung, wie ich geworden wäre, wäre meine Familie nicht im Frühjahr vor Abschluss der ersten Klasse in die Stadt gezogen. Nun konnte ich von meinem Fenster aus auf den Schulhof, altehrwürdige Kastanienbäume und ein Schulgebäude von 1892 sehen – auf einen Backsteinbau, ziegelrot und massig wie eine Festung oder Kaserne. Das wichtigste Gefühl meinen potentiellen künftigen Mitschülern gegenüber war am Anfang nackte Angst. Um keinen Preis wollte ich aber so isoliert bleiben wie zuvor.
Die Rolle des Chefs war vergeben, die des Klassenkaspers frei, und wenigstens in den folgenden drei Jahren füllte ich sie fantasievoll aus. Den Unterricht zu stören fiel mir nicht schwer und die dümmsten Kinderwitze verwandelten sich in meinem Mund in lange Geschichten.
Diese Rolle hatte mehrere „Vorteile“. Ein Stück Aufmerksamkeit behielt ich und beim großen Mitschülermobbing konnte ich zusehen. Das Hauptopfer war über viele Monate ein Mädchen, das durch ihren Geruch und ihre staksigen Bewegungen am meisten auffiel und das Hinundherschubsen dadurch vergnüglicher machte, dass sie so herrlich quäkte, Angst zeigte und „Was hab ich euch getan?“ oder „Lasst mich doch in Ruhe!“ jaulte. Dem Zugriff der Lehrer entzog sich der Terror dadurch, dass „Erdnuss“ erst nach Schulschluss und draußen vor dem Schulgebäude gequält wurde. Ihr Pech war, dass der Hofausgang neben der Haupttür lag, sodass sie nicht ungesehen die Schule verlassen konnte – und immer waren welche vor ihr da, um die sich dann die anderen Wartenden sammelten.
Es hätte natürlich niemand zugegeben und irgendwie war es erst so etwas wie ein Triumph, als das Mädchen aus der Schule genommen wurde und in einer „Hilfsschule“ bis zu Klasse 6 kam, aber im Unterbewusstsein einiger Mitschüler wuchs doch das Gefühl, dass wir das Leben eines Menschen zerstört hatten, der uns wirklich nichts getan hatte. (Und in meinem Unterbewusstsein prägte es das dauernd schlechte Gewissen, dass ich lachend dabei gestanden hatte.)

Dienstag, 7. Juni 2011

1. Abschnitt: Wie ich trotz und wegen der DDR zu meinem ganz individuellen Kommunismus fand (1)


„Kommunismus“ ganz individuell? Am Ende sogar „individualistisch“?
Sollten sich bei mir irgendwo „Wissenschaften“ einschleichen, so möge man mir dies verzeihen. Dann dachte ich wohl, dass es an der Stelle nicht anders ging. An sich bin ich nur ein „Künstler“ - eine Bezeichnung, die nicht geschützt ist, sodass sich jeder Mensch damit schmücken kann – also eben auch ich. Als solcher gebe ich zu: Ich bin Individualist. Hielte ich „Kommunismus“ für eine verordnete Gleichmacherei im Sinne einer Kollektivierung, wäre das keine für mich wünschenswerte Zukunftsvorstellung. Für Massenparaden vorbei an einem Großen Vorsitzenden bin ich einfach nicht gemacht. Auch habe ich meine eigene Sicht darauf, was „vernünftig“ ist. Die muss man nicht teilen. Aber als ein penetrant aufdringlicher Schüler konnte ich es mir schon früher nicht verkneifen, dazwischen zu rufen und den Finger vor lauter Fragen oben zu behalten. Warum dann heute? Vielleicht hilft es auch der Fantasie Anderer auf die Sprünge … Sagen wir einem … oder zweien … oder ...
Eben weil ich so bedingungslos Ich-bezogen schreiben möchte, beginne ich einfach mit … meinem Anfang. Gut, nicht ganz, denn über meine Geburt kann ich nichts sagen. Da war ich zwar dabei, sogar als die Hauptperson, aber nicht so richtig voll da. Bedeutsamer für das, was aus mir wurde, war schon meine frühe Kindheit. Eigentlich kann ich mich auch an die nicht selbst erinnern, aber die Erzählungen darüber waren zahlreich und die Folgen habe ich handfester in Erinnerung.
Ich war nicht nur ein unvorhergesehener (unbeabsichtigter) Nachzügler, sondern wahrscheinlich von Anfang an ein sehr antiautoritäres, schwieriges Kind in einer autoritären Familie. Nicht hübsch und brav, sondern aufdringlich wie eine jener berühmten grünen Fliegen. Meine Eltern (also meine Mutter) fanden viele Gründe für den Einsatz diverser Gegenstände zur körperlichen Züchtigung. Ob mir dies geschadet hat, kann ich nicht beurteilen. Dabei geholfen, aus mir einen „anständigen Jungen“ zu machen, hat es jedenfalls nicht. Zu meinen frühkindlichen Besonderheiten gehörte eine ungewöhnliche Verbissenheit und gelegentliche Ausgüsse unerwarteter Intelligenz. Auf jeden Fall war ich häufig Gesprächsstoff der zusammen hockenden ältlichen Damen jener Siedlung, in der ich aufwuchs. Wahrscheinlich sei ich ein Wunderkind und würde eine Sensation für die Welt, meinten die. Welches Menschlein kommt denn schon im zarten Alter von fünf Jahren auf die Idee, wie ein Chronometer um den Dorfanger zu rollern und dabei laut bis zu einer Million zu zählen – nach 1000 allerdings in Tausender-Sprüngen. Ich wurde also gelegentlich herumgereicht, um Zeugnis meiner unbegreiflichen Rechenkunst vorzuführen. So zweifelhaft die Wunderkind-Diagnose der Dorf-Dämlichkeiten auch war, in mir ließ sie die Überzeugung wuchern, dass ich wohl etwas Besseres war als die Dorfgören. Wenn man also bei einem Fünfjährigen bereits von „Überheblichkeit“ sprechen kann, dann war ich das Muster frühen überheblich Seins. Mein Fehler nur: Ich zeigte dies den anderen Kindern gegenüber sehr abstoßend offen und gestritten habe ich mich wohl auch fast ohne Unterbrechung. Bald war ich völlig isoliert, ein echter Einzelgänger. Freunde hatte ich keine und aus dem Dorfkindergarten musste ich herausgenommen werden, weil ich regelmäßig und intensiv verprügelt wurde – und zwar von der Masse der anderen Kinder. Im ersten Schuljahr wurde ich zur Qual meiner Lehrerin, da ich zügellos über die Unfähigkeit der Mitschüler herzog, solche Babyaufgaben wie zehn minus drei auszurechnen. Wie wollten die denn dann 910 minus zwölf gleich 898 rechnen?  

Montag, 6. Juni 2011

Moritat vom Tal der Blinden

Oh, höret die Geschichte,
was einst geschehen ist.
Es hatte angefangen
vor unbekannter Frist.
Vielleicht war es das Wasser,
vielleicht die schlechte Luft,
denn wer gewohnt im Tale
vergaß bald deren Duft.
denn wer gewohnt im Tale
vergaß bald deren Duft.

Es ist, wie schlimm, geschehen,
dass niemand mehr was sah,
von seinem grünen Tale,
der Sonne, wunderbar.
Bald wurde dort geboren
ein jedes Unschuldskind,
mit eben jenem Makel:
Die Augen waren blind.
mit eben jenem Makel:
Die Augen waren blind.

Jedoch der Kreis der Menschen
hat später es geschafft,
zu sehen ohne Augen
durch Ohr und Geisteskraft.
Sie fanden eine Höhle
für ihre Sicherheit.
Der Sonne Licht und Bilder -
längst nur Vergangenheit.
Der Sonne Licht und Bilder -
längst nur Vergangenheit.

Die Schönheit der Geschlechter
als Bild sich schnell verlor;
doch durch der Finger Spitzen
war warm sie wie zuvor.
Das Tal war abgeschieden,
die Höhle unbekannt.
In Hunderten von Jahren
kein Mensch sie wiederfand.
In Hunderten von Jahren
kein Mensch sie wiederfand.

Ein Flugzeug, das schon brannte,
gab den Piloten frei.
Am Fallschirm ging er nieder
ins Tal der Blindenei.
Der Mann sah dort ein Mädchen
beim Höhleneingang stehn.
Das hatte blonde Haare,
war blass, doch wunderschön.
Das hatte blonde Haare,
war blass, doch wunderschön.

Der Mann ging hin es küssen,
es blieb leicht zitternd stehn.
Er haucht ihr in die Ohren,
wie herrlich, dich zu sehn.
Sie hat ihn nicht verstanden,
was er damit gemeint,
doch weil sie Liebe fühlte,
sich zart mit ihm vereint.
doch weil sie Liebe fühlte,
sich zart mit ihm vereint.

Die Andren sind gekommen
bald in der Abendstund´
Das Paar gab voll Entzücken
die reine Liebe kund.
Man hat sehr wohl empfunden
des Mannes Eigenheit.
Doch war man noch gewogen
der Liebe Mächtigkeit.
Doch war man noch gewogen
der Liebe Mächtigkeit.

Der Mann war voll Entsetzen:
Ihr seid ja alle blind!
Verstand nicht ihre Worte
vom Fühlen zart im Wind.
Er fand der Blindheit Wurzel,
er fand der Rettung Weg.
Doch niemand ist gegangen
auf seinem lichten Steg.
Doch niemand ist gegangen
auf seinem lichten Steg.


Du kannst das Mädchen haben,
doch bist du krank, kannst sehn.
Wie willst du wie wir fühlen;
wie willst du uns verstehn.
Du sollst ein unserer werden,
von Krankheit ganz geheilt.
Nur wer wie wir so blind ist,
voll Glück im Tal verweilt.
Nur wer wie wir so blind ist,
voll Glück im Tal verweilt.

Die Liebe war so mächtig,
das Universum fern.
Der Mann hatte das Mädchen
so wie die Sonne gern.
Am Tage seiner Hochzeit
die Augen waren leer.
Er ließ vom Weib sich führen;
er nahm es noch nicht schwer.
Er ließ vom Weib sich führen;
er nahm es noch nicht schwer.

In all den spätren Jahren
hat Fühlen er gelernt,
doch blieb trotz aller Mühe
von allen er entfernt.
Es wurd ein Kind geboren,
das in die Höhle schaut.
Zuerst war es mit Fühlen
und dann mit Seh´n vertraut.
Zuerst war es mit Fühlen
und dann mit Seh´n vertraut.

Die Eltern wollten hüten
das fehlerhafte Kind.
Das war nicht wie die Andern,
zwar hörend, doch nicht blind.
Die Eltern hießen´s schweigen,
so lang es möglich war,
doch wuchs, entdeckt zu werden
alltäglich die Gefahr.
doch wuchs, entdeckt zu werden
alltäglich die Gefahr.


Der Mann ist fortgezogen,
das Kind hat ihn geführt.
Es hat die Welt gesehen,
es hat die Kraft gespürt.
Doch denkt es an die Mutter,
der Mann denkt an sein Weib,
von dem er fortgegangen
trotz Flehen, bitte bleib.
von dem er fortgegangen
trotz Flehen, bitte bleib.

Nun kann der Mann nicht sehen
in seiner eignen Welt.
Gar mancher stellt ihm Beine,
zu testen ob er fällt.
Er möchte gerne retten,
sein Weib, von Liebe still,
und dass sie letzten Endes
auch selber sehen will.
und dass sie letzten Endes
auch selber sehen will.