In der 7. Klasse begann dann unsere vorsätzliche „Bewusstseinsbildung“ in Form des Staatsbürgerkunde- und Geschichtsunterrichts. Rückblickend muss ich allerdings einräumen, dass die ethischen Normen, die nun Namen bekamen, bereits vorher geprägt waren, weil sie uns vorgelebt oder eben nicht vorgelebt wurden. „Gut“ oder „Böse“ ist sozusagen sowohl greifbarer als auch abstrakter als „Sozialismus“ und „Kapitalismus“. Die Leistung der entsprechenden Unterrichtsfächer bestand also nicht darin, irgendetwas wirklich ideologisch vermittelt zu haben. Allerdings wurde z.T. Vorhandenes gefördert bzw. gebremst.
Vielleicht hätte ich ein freundlicheres Verhältnis zur „Nationalen Volksarmee“ der DDR entwickelt, aber die Verhältnisse waren eben nicht so. Meine Sportbegeisterung war nie so groß, dass mich da etwas gelockt hätte. Emotional ein egozentrischer Anarchist war mir jegliche Beziehung von unterordnendem Gehorsam zutiefst zuwider – nicht nur, aber auch, weil ich mich hätte unterordnen sollte. (In einem krankhaften Anfall von Übermachtssadismus spielte ich meinem engsten Freund gegenüber einen SS-Mann: Ich zwang ihn, den schwarz Gelockten, durch brutale Gewalt dazu „Ich bin eine dumme Judensau!“ auszurufen, um frei zu kommen … und ich könnte nicht sagen, vor wem ich mich nachher mehr ekelte: vor ihm, der sich derart demütigen ließ, oder vor mir, dass ich zu so etwas fähig gewesen war …) Rund wurde meine Grundhaltung zum Thema Armee dann eigentlich erst dadurch, dass es in der Klasse bei den Auseinandersetzungen mit der Staatsbürgerkundelehrerin einen einzigen Schüler gab, der sich sichtlich bemühte, die Aussagen zu finden, die voraussichtlich die Lehrerin zu hören hoffte. Dieser Speichellecker mit mäßigem geistigen Niveau strebte an, Offizier zu werden. Ich konnte ihn mir als Typ einfach zu gut als Stiefel in einer preußischen Untertanensoldateska vorstellen. Das schon vorher ausgeprägte Bild, Körperkraft zeigten die, denen es an Geisteskraft mangelte, wurde untermauert – nur eben auf höherer Ebene. (Ich muss also Verständnis für Menschen haben, die ihre engen eigenen Erlebnisse zu unzulässig Pauschalurteilen verallgemeinern.)
Aber die Stabü-Lehrerin hat auf ihre Weise bei mir etwas bewegt. Im Nachhinein tut sie mir eigentlich Leid. Es war mir ein teuflisches Vergnügen, den ungeliebten „Rotlicht“-Unterricht zu sprengen. Hier konnte ich die ganze spitzfindige Rafinesse boshafter Sprachanalyse an die Front werfen. Ich hatte die meisten Schulbücher zu Beginn der Unterrichtsjahres schon überflogen. Im Staatsbürgerkunde-Lehrbuch fiel mir dabei etwas auf: Außer bunten Bildchen gab es Kästchen mit Zitaten der „Klassiker“ des Marxismus-Leninismus, die ich sozusagen als die Verkündigung Moses ansah (so waren sie wohl auch ausgesucht und gemeint), während der eigentliche Text das profane Bla-Bla war. Da Gute daran: Es ließen sich in dem profanen Zeug Widersprüche zu Gottes, Pardon: Marxens, Kernsätzen in den Kästchen entdecken. Also bereitete ich so einige Stunden vor. Ich sprengte sie mit der Absicht zu beweisen, dass das, was wir als wunderbare Wirklichkeit unserer größten DDR alle Zeiten erklärt bekommen sollten, gar nicht das war, was der große Marx sich als sozialistische Gesellschaft vorgestellt hatte. Widerspruch als Gehirnsport.
Alle intelligenten Mitschüler verfolgten die Diskussionen mit Vergnügen und unterstützten mich nach bestem Wissen, die weniger intelligenten freuten sich, dass die Stunden nicht als langweilige Lernstunden versandeten. Nur jener Heßling-Möchtegern-Offizier mühte sich um Unterstützung der Lehrerin. Die aber war vor allem von uns Jungen begeistert. Weil wir so offen Interesse zeigten, ließ sie ihre Stundenvorbereitung in der Tasche und versuchte, unser Denken zu lenken. Argumente wurden nicht niedergeschlagen und „Erklärungen“ vermittelt, wie wir etwas sehen sollten, sondern sie versuchte, uns die Widersprüchlichkeit von Vorgängen begreiflich zu machen. Nicht einfache Antworten, sondern Bewegung und unter der Oberfläche des offen Sichtbaren gebe es erkennbare Zusammenhänge, um deren Aufdeckung man sich bemühen muss – das nenne man im Sinne von Marx zu handeln und das könne sogar Spaß machen.
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