Freitag, 17. Juni 2011

1. Abschnitt: Wie ich trotz und wegen der DDR ... (11)

Und am Ende der 10. Klasse gab es noch eine „Offenbarung“. Meine Klasse machte eine einwöchige Abschlussfahrt. Zufälle brachten mich dabei mit einem Schüler zusammen, von dem ich kaum mehr wusste, als dass er mehrmals nur sehr knapp die Klassenziele geschafft hatte. Wir unterhielten uns viel. Es begann mit einem Detail: Wir hatten beide begeistert die Folgen von „Raumschiff Enterprise“ im Fernsehen verschlungen. Das wäre ja so ungewöhnlich nicht gewesen. Aber beeindruckend war dann das darüber hinausgehende Wissen und Denken des Jungen, sein … philosophischer Scharfblick. Klar haben wir auch viel einfach „gesponnen“. Aber wichtiger war, dass ich erstmals bei jemandem, den ich weit unter meinem geistigen Niveau eingeordnet hatte – die ganze Schulzeit lang hatte ich das – ein geschlossenes kluges Denksystem erlebte. Eigentlich machte er sich um die Zukunft der Welt mehr Gedanken als ich und er vermochte seine Überlegungen verblüffend klar zu formulieren. Ich bekam das Gefühl, in den letzten Jahren einen Freund übersehen zu haben, weil ich mich innerlich zu sehr über ihn erhoben hatte, um ihn überhaupt zu bemerken.
Das Wichtigste für mich war die Erkenntnis, dass es extrem unterschiedliche Möglichkeiten gibt, über die ein Mensch für andere, zumindest aber für einen anderen „wertvoll“ sein kann. Schon damals begann es mir zu widerstreben, solchen „Wert“zu wichten. Warum soll jemand wegen seiner Besonderheit besser oder schlechter als ein anderer mit dessen anderer Besonderheit sein? Vor allem führten mich unsere utopischen Zeitreisen vor eine bittere Erkenntnis: Es war ein verdammt gewöhnlicher Zufall, dass ich in meine Zeit hineingeboren war und hier mit guten Zensuren brillieren konnte. Von der Herkunft nicht privilegiert graute es mir vor der Vorstellung, in einer vergangenen Zeit zur Welt gekommen zu sein. Meine Art zu denken wäre da abfällig weggewischt worden. Nur die Fähigkeit der Muskelkraft wäre gefragt gewesen. An der aber haperte es. Oder in einer vergangenen Schule. Beim Auswendiglernen war ich schwach. Ich wäre also dort ein „schlechter“ Schüler gewesen. Wer konnte mir sagen, welche Qualitäten in 100 Jahren erwünscht waren – die ich vielleicht hätte, vielleicht aber auch nicht. Mein vorzeigbares Zeugnis war also nicht objektiv, sondern dem Zufall geschuldet, dass ich Fähigkeiten zu meinen Besonderheiten hatte zählen können, die gerade erwünscht und messbar gewesen waren.
Und auch bei der Einschätzung der „Persönlichkeit“ gab es breit gefächerte Unterschiede. Wir Schüler hatten uns einen Sport daraus gemacht, in den letzten Schultagen der Jahre das Klassenbuch zu durchstöbern. Dort trug dann jeder Lehrer für jeden Schüler die „Kopfnoten“ ein: Betragen, Mitarbeit, Ordnung … Gesamtverhalten. Bei „Betragen“ erhielt ich vom Klassenlehrer Dreien oder Vieren. Nicht wenige andere Fachlehrer werteten „sehr gut“. Aber ich war doch derselbe Mensch?! (Nur eben nicht pflegeleicht und normgerecht.)
Klar war, ich fiel aus dem Raster. Dafür gab es mehrere Erklärungsmöglichkeiten: Entweder war das Raster falsch oder es war falsch, mit einem „Raster“ zu arbeiten oder … ich hätte mich endlich richtig anpassen müssen an das, was Andere von mir erwarteten. Gelegentlich versuchte ich das. Aber es ging nicht. Ich hätte mich selbst verleugnen müssen.

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