Hebamme
Geschichte und ihre Ungeschicklichkeit
Paradies
Einst
wurden die ersten Menschen
verjagt.
Wild
wuchern nun
unbeschnittene
Triebe
unbeherrschten
Grüns
in
den Himmel.
Nirgendwo
eine
Eva, die
Kontakt
suchenden Schlangen
Gesellschaft
gewährte.
Ein
knorriger Baum
erinnert
sich
vergangener
Äpfel.
Wo
kein
Herr
den
Frieden diktiert
und
jeder Apfel
Erkenntnis
bringt,
stirbt
kein Traum
unter
Verwilderndem,
wären
wir wieder
zurück.
Die
Geschichte verläuft insgesamt nach „Gesetzen“. Also, dass es
gekommen ist, wie es dann wirklich kam, lässt sich sachlich
begründen. Das ändert nichts daran, dass die Geschichte Punkte
hatte, an denen es anders hätte kommen können, der ganze Rest in
andere, auch vernünftig zu begründete Bahnen eingeschwenkt wäre,
von denen einige uns wesentlich besser getan hätten.
Für
mich war dabei das zwanzigste das Jahrhundert mit den
fürchterlichsten Menschheitskatastrophen. Das siehst du vielleicht
genauso. Aber wenn ich sage, welche ich für die schlimmste halte, da
werde ich bestimmt wenig Zustimmung finden. Und das, obwohl die
Nachwirkungen uns immer noch berühren und vielleicht irgendwann
irgendwelche Aliens sagen werden, damit begann das Ende der
Menschheit. Nach meinem Verständnis ist diese größte Katastrophe
der jüngeren Menschheitsgeschichte die Niederlage der
Novemberrevolution in Deutschland. Hoffentlich liegt das nur daran,
dass ich eben Deutscher und damit gewohnt bin, in meiner Heimat den
Mittelpunkt des Universums zu sehen.
Der
„Sieg“ der russischen Oktoberrevolution, genauer: die Art, in der
er nur möglich geworden und in der bereits der Keim für sein Ende
enthalten war, krankte nämlich am deutschen Scheitern.
Reisen
wir gedanklich gut 100 Jahre in der Zeit rückwärts. Selbst
bürgerliche Historiker geben mitunter zu, dass damals „Kapitalismus“
herrschte, ja „Imperialismus“. Nun brauchen wir uns nicht darüber
auszulassen, dass der Erste Weltkrieg kein unerwarteter
Schicksalsschlag war, in den die unschuldigen Nationen Europas und
der Welt „hineingerissen“ wurden, weil ein „Irrer“ einen
Thronfolger ermordet hatte. Wir wissen um das aggressive Wesen des
Imperialismus, seine gesetzmäßig ungleichmäßige Entwicklung und
die dabei Deutschland als Zu-spät-Kommer zugefallene Rolle, eine
vollzogene Aufteilung der Welt ändern zu wollen. Aber eigentlich
brachte jeder imperialistische Staat konkrete wirtschaftliche
Hoffnungen in seine Kriegspolitik ein. Der Krieg war eine zwangsweise
Folge der Vollendung des „Imperialismus“: Nach Jahrzehnten des
Wettlaufs, relativ wehrlose Völkerschaften unter die eigene
koloniale Herrschaft zu bekommen, war nun alles so weit aufgeteilt,
dass nur noch eine Umverteilung möglich war. Dass der Weltkrieg
begann, war also notwendige Folge dieser Entwicklung. Die Katastrophe
lag erst in seinem Verlauf und einem Ende, in dem die
Ausgangspositionen für den nächsten Weltkrieg bereits „eingebaut“
waren.
Dieses
Kriegsende, wie es ausgesehen hat und was hätte kommen sollen oder
müssen, ist das Problem.
Entschuldige
bitte: Ich mache mitunter einen Fehler:. Ich unterstelle, dass du das
auch weißt. Ich weiß doch aber gar nicht, was du weißt.
Wahrscheinlich hast du wenig vom „Marxismus/Leninismus“ gehört,
außer vielleicht, dass es eine gefährliche Theorie und
Weltanschauung ist. Es ist meine ... so im Wesentlichen. Zum
Verständnis, wie wir in die Zukunft blicken können, brauchen wir
eine solche Gesellschaftswissenschaft. Wir brauchen sowohl etwas
Philosophie als auch politische Ökonomie als auch einen
„wissenschaftlichen Kommunismus“. Etwas kleiner: den
„dialektischen und historischen Materialismus“. Dessen
philosophischen Kern würde ich am kürzesten so beschreiben:
Alles,
was existiert, ist materiell und insoweit erkennbar (nur evtl. noch
nicht erkannt) und dementsprechend veränderbar. Unser Bewusstsein
spiegelt das Materielle wider, verändert es aber auch dabei.
Dialektik
ist eine Weltsicht in Zusammenhängen. Alles ist Gewordenes (und
Vergehendes) und steht in Wechselwirkung mit der „restlichen“
materiellen Welt. Das Materielle in der menschlichen Gesellschaft
sind seine wirtschaftlichen Beziehungen, die aus dem
Entwicklungsstand der „Produktivkräfte“ erwachsen: Die Menschen
treten in „Verkehrsverhältnisse“ zueinander – und zwar so, wie
die technischen Möglichkeiten einer Produktion entwickelt sind. Wenn
wir also wissen wie viel und wie produziert wird in einer Zeit,
wissen wir schon fast alles. Zumindest machen wir Fehler, wenn wir
diesen Aspekt nicht mit betrachten.
Diese
Verhältnisse also bilden einen Rahmen, der langfristig die
menschliche Entwicklung bestimmt und der gesprengt werden muss, wenn
er dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte nicht mehr entspricht.
Schließlich sind die einmal entstandenen Verhältnisse auch noch da,
wenn die technischen Bedingungen der Produktion längst weiter
entwickelt sind.
Das
hat selbst für gebildete „Marxisten“ gemeine Fallstricke. Die
Gesetze der menschlichen Gesellschaft wirken zwar in gewisser Weise
wie Naturgesetze. Allerdings kann - so wie bei den Fallgesetzen
Newtons die Erde (und der Gravitations-Gegenkörper) vorhanden sein
muss - ein „gesellschaftliches Gesetz“ nur durch das Handeln von
Menschen in der Gesellschaft existieren und funktionieren. Das aber
ist wiederum nicht ohne ein bestimmtes Bewusstsein zu haben. Und das
sind Beziehungen, die nicht der Schulmathematik entsprechen, weil das
Handeln von Gruppen die Gesamtheit des Handelns der dazu gehörenden
Menschen ist und jedes einzelne Bewusstsein durch mehr Faktoren
beeinflusst wird, als für den konkreten Einzel-Fall relevant wären.
Sprich:
Der Marxismus erfasst richtig den „Klassenkampf“ als Triebkraft
der menschlichen Entwicklung. Aber obwohl es Interessen gibt, die
große Menschengruppen aufgrund ihrer Stellung in der materiellen
Produktion objektiv gemeinsam haben, die sie also zu „Klassen“
machen, heißt dies noch lange nicht, dass sie sich dessen bewusst
sind und entsprechend handeln wollen – und dann handeln sie auch
nicht. So wie die Existenz von Gravitation dort belanglos ist, wo es
nur einen Körper gibt. Was aber hat das mit den Katastrophen des 20.
Jahrhunderts zu tun?
Die
Antwort fällt leichter, wenn man berücksichtigt, dass Marx aus der
prinzipiellen Gesetzmäßigkeit der Entwicklung der menschlichen
Gesellschaft – die er für die Vergangenheit aufzeigen konnte –
die Notwendigkeit und Möglichkeit der weiteren Entwicklung,
einschließlich der diese Entwicklung tragenden Kraft ableitete. Die
„Arbeiterklasse“, so meinte er, sei die erste Klasse, die dank
ihrer Rolle in der Produktion – nämlich doppelt „frei“ zu sein
(von vorgeschriebenen Abhängigkeiten und von Eigentum) – die
Klassenherrschaftsverhältnisse als Ganzes beseitigen könne. Diese
Arbeiterklasse entwickelte sich in der letzten Hälfte des 19.
Jahrhunderts stürmisch … Mit dem Ersten Weltkrieg reiften
zumindest europaweit „revolutionäre Situationen“: Mehr oder
weniger sah es danach aus, dass die Herrschenden nicht mehr auf die
bisherige Weise würden herrschen und die Beherrschten nicht mehr so
weiter leben können wie bisher. Eine solche Situation ist sozusagen
Verpflichtung für die fortschrittlichen Kräfte aller Länder das
für sie Mögliche zu tun, um eben den notwendigen Fortschritt im
Zusammenleben zu entbinden.
Unter
diesen Bedingungen schrieb Lenin sein gern verkanntes Buch „Staat
und Revolution“, in dem er das Ziel einer sich sozialistisch
auflösenden Klassengesellschaft so „wissenschaftlich“ beschrieb,
wie es zu jener Zeit möglich war. Ein Buch, was du auch verstehen
kannst – und wenn dir zu viele Namen begegnen, dann denk die
einfach weg. Gern wird in Lenins Ausführungen hineingedeutet, die er
nur wenige Monate später machte (hauptsächlich in die
„Aprilthesen“), dass er grundsätzliche Positionen wieder
korrigierte. Das sehe ich aber anders.
Zum
dialektischen Denken gehört nämlich auch, sich über die Ebene
klarzuwerden, auf der man sich gerade bewegt. Und „Staat und
Revolution“ beschrieb eine Welt (!!!) des „Sozialismus“, auf
die hinzusteuern 1916 theoretisch notwendig war und praktisch möglich
schien – während 1917 die Kräfte miteinander rangen, die einen
solchen Weg gerade einleiteten. Nun stellte sich die Frage auf einer
Ebene, auf der man zwar Sozialismus haben wollte, aber mindestens in
wesentlichen Teilen der Welt noch nicht hatte und wahrscheinlich
nicht haben würde.
Jeder
traditionsbewusste Bayer weiß, dass zum Fensterln eine Leiter
gehört, die er hochsteigen muss, um zu seiner Liebsten zu kommen.
Nur ist der Sinn der Sache natürlich nicht die Nutzung der Sprossen,
sondern die Liebesbegegnung, zu der man über sie kommt. Trotzdem
sollte man sich mit der Frage beschäftigen, was man macht, wenn
jemand die Sprossen angesägt hat …
„Staat
und Revolution“ beschrieb sozusagen das erfolgreiche Fensterln -
was Lenin danach untersuchte (z. B. in den „Aprilthesen“) war
eher der Umgang mit der angesägten Leiter.
Noch
bestand aber Grund zur Hoffnung: Die Bolschewiki standen an ihrem
Platz, erfüllten ihre Pflicht, andere Parteien standen an anderen,
um dort die ihre zu erfüllen. Eine besondere Rolle kam dabei
Deutschland zu. Hier waren die weltgrößten Potenzen der inneren
Wirtschaftskraft konzentriert. Die Weltmacht Nummer eins, England,
war durch die Ausbeutung ihrer Kolonialwelt eher ein „Rentnerstaat“,
in dem den Bewohnern mehr Almosen zur Beruhigung zugeworfen werden
konnten.
Sowohl
der relative Sieg der russischen Oktoberrevolution als auch die
Niederlage aller den bürgerlichen Horizont übersteigenden Kräfte
in der deutschen Novemberrevolution hatten konkrete Gründe, beide
Ergebnisse waren für sich genommen aber nicht so zwingend notwendig,
wie beispielsweise der „Ausbruch“ des Weltkriegs. Bei dem war nur
der Anlass, also das Datum des Beginns Zufall. Dass – um nur ein
Beispiel zu nennen – die Kommunistische Partei Deutschlands nicht
schon am 30.12.1917 gegründet wurde, war kein Sachverhalt, den Lenin
im April 1917 hätte berücksichtigen können.
Also
spielen wir einmal das unwissenschaftliche
Was-wäre-gewesen-wenn-Spiel und stellen Überlegungen an, was sich
wahrscheinlich beim Sieg einer sozialistischen deutschen
Novemberevolution für die Welt alles verändert hätte.
Also,
ich glaube ganz sicher, dass der Interventions- und Bürgerkrieg
gegen das junge Sowjetrussland anders verlaufen, er zum Beispiel mit
weniger weißem Terror und damit weniger rotem Gegenterror zu Ende
gegangen wäre.
Sicher
hätte auch der „Versailler Vertrag“ und seine Umsetzung anders
ausgesehen.
Sicher
ist drittens, dass eine richtige Volksmacht zum Aufbau des
Sozialismus die Entwicklung des Faschismus in Deutschland verhindert
hätte.
Für
fast sicher halte ich auch, dass es den Weltkrieg Nummer 2 nicht in
der uns bekannten Art gegeben hätte (mit der deutschen
Kriegsschuld).
Dazu
kämen die wahrscheinlich positiveren Entwicklungen in anderen
europäischen Ländern. Ich denke da unter anderem
an das Schicksal der ungarischen Räterepublik oder die italienische
Entwicklung zum ersten „Faschismus an der Macht“. Da ließe sich
viel spekulieren.
Entscheidend
ist die Wirklichkeit: In der realen Geschichte hatte 1922 nur ein
Anlauf zum Sozialismus überlebt - auf einem Stück Welt, wo die
„Produktivkräfte“ nur minimale Ansätze für eine
überlebensfähige sozialistische Gesellschaft boten und das auch
dank der Weite des Landes. Eine Welt von Hinterweltbauern, die
teilweise auf einem Entwicklungsniveau verharrten, das in Deutschland
bereits zur Reformationszeit überwunden worden war. Dem standen ein
paar dünn gesäte Leuchttürme des Fortschritts gegenüber. Weltweit
isoliert, gezwungen, aus eigener Kraft in einen Rundum-Fortschritt zu
rasen. Krieg und Nachkrieg … und kurzfristig musste ein autarkes
System aufgebaut werden. Alles selber machen von der Gewinnung der
Rohstoffe an über die Produktion in den Grundindustrien bis hin zur
Endfertigung / der Bedürfnisbefriedigung … mit einem Minimum an
Fachkräften - auf der anderen Seite erwartete man von dem einzigen
„Sieger“ in den Reihen der sozialistischen Bewegung Führung in
jeder Ebene.
Nun
stelle man sich vor, an der Seite des Rohstofflands Russland hätte
wenigstens die – wenn auch vom Krieg zurückgeworfene –
Industriemacht Deutschland gestanden. Für den Mathematiker wäre das
ein Entwicklungsvergleich wie wenn man 4 x 4 x 4 x 4 an die Stelle
von 2 x 2 x 2 x 2 setzt. Anfangs „nur“ jeweils doppelt gute
Ausgangsposition, aber bald stünde es 256 : 16! Allein was die
gegenseitige wirtschaftliche Befruchtung beträfe ...
Dazu
wäre noch etwas Anderes gekommen: Eine objektiv bessere Ausgangslage
für innere Demokratie. Wie war denn die Wirklichkeit? Ein alleiniger
Riese konnte gleichberechtigte Mitsprache höchstens simulieren. Es
war doch irgendwie selbstverständlich, dass eine Macht, die fast 30
Jahre sich hatte irgendwie einrichten müssen allein klarzukommen,
nach dem nächsten Krieg Schwierigkeiten mit der „Gleichberechtigung“
von Partnern haben musste, die ohne sie allesamt nicht lebensfähig
gewesen wären (von der Führungsrolle der einzigen Siegerpartei ganz
abgesehen).
Wie
anders hätte das objektiv sein können, wenn von Anfang an ein Netz
von Abhängigkeiten zum gemeinsamen Vorteil bestanden hätte.
Ich
darf sogar auf anderer Ebene spekulieren: Ohne den deutschen
Faschismus wäre die Atombombe zumindest nicht so früh einsatzreif
gewesen. Ohne die amerikanische (hier wage ich den Ausdruck
„amerikanisch-deutsche“) Atombombe wären die Anstrengungen der
Sowjetunion zum Gleichziehen (noch) nicht nötig gewesen –
unmittelbar nach der Weltkriegsverwüstung des eigenen Potentials,
also zu einer Zeit, wo dieses Land wahrlich Wichtigeres hätte tun
wollen und müssen.
Aber
es war ja nicht der Weltkrieg allein und die Angst danach, gleich
wieder in den nächsten mit einem übermächtigen Gegner zu geraten.
Es war eben die Hektik, mit der superschnell eine sowjetische
Tonnenschwerindustrie aus dem eigenen Lebensstandard
herausgeschnitten worden war – wenn man die folgenden
Panzerbaukapazitäten berücksichtigt, zu Recht. Das hatte sowohl
wirtschaftliche Folgen als auch „ideologische“: Wann hört eine
einmal bewährte Tonnenideologie (Was das ist, kannst du in Wikipedia
nachlesen!) auf, sinnvoll zu sein? Wann ist der Punkt gekommen, wo an
die Stelle des Kommandierens, der Kommissare, die das letzte Wort
haben, Wirtschafts- und Gesellschaftsdemokratie treten kann … und
muss? Wenn es doch so oft nur mit Gewalt gegangen war, hatte gehen
müssen? Mensch ist Mensch – auch wenn er „Kommunismus“ leicht
über die Lippen bringt. Und eine „bewährte Methode“ gibt man
nicht so leicht auf.
Auf
der anderen Seite steht die menschliche Anpassung: Wenn eben immer
der Kommissar das Richtige gesagt hatte – allein deshalb, weil er
der Kommissar war - dann betäubte das die Selbstüberwindung zum
Mitdenken. Dies vor allem unter Bedingungen, wo Väterchen Zar so
glatt von einem Generalissimus abgelöst worden war.
Diese
Menschen „frei“ ihre Geschicke in eigene Hände nehmen zu lassen,
ist dasselbe, wie Menschen, die Monate lang in einer finsteren Höhle
gehaust haben, ins Licht hinauszuscheuchen. Sie werden anfangs
geblendet, hilflos … in die nächste dunkle Ecke torkeln.
Nein,
ich behaupte nicht, dass dies allein die Geschichte des
„Realsozialismus“ erklärt. Sobald man das aber weglässt,
entsteht ein verzerrtes Bild. Jeder einzelne Fehler im
„Realsozialismus“ hätte als Einzelfall wahrscheinlich vermieden
werden können – sie alle lassen sich aber als Masse von Fehlern
auf die ungünstige Ausgangslage zurückführen.
Leider
verließen sich viele Vertreter des realen Sozialismus auf Floskeln
der „Klassiker“ der „marxistischen“ Weltanschauung, die sie
einfach nachplapperten. Dabei hatten die an manchen Stellen
unscheinbare, aber wesentliche Löcher im geistigen System
hinterlassen. Auch Marx, Engels und Lenin waren schließlich Menschen
ihrer Zeit. Eines solches „Loch“ war der Gedanke, dass es nur
einen umfangreichen Übergangszeitraum vom Kapitalismus, also der
letzten auf Ausbeutung aufgebauten Klassengesellschaft, zum
Kommunismus als klassenloser Gesellschaft geben muss. Diesen einen
Übergangszeitraum, den man großzügig einer gemeinsamen
„kommunistischen Gesellschaftsformation“ zurechnete (worüber man
in 50000 Jahren die Achseln zucken wird), nannten sie Sozialismus.
Marx
ging dabei logisch vom im Wesentlichen weltweit „gleichzeitig“
erfolgenden Übergang der durch die Arbeiterklasse geführten
Menschheit von der alten in die neue Ordnung aus. Damit hatte er
keine Veranlassung, über den Charakter einer „Weltgesellschaft“
nachzudenken, die diesem „Sozialismus“ nur teilweise
nähergekommen war. Über die Übergangszeit zur Übergangszeit
sozusagen. Und als Lenin merkte, dass der Sprung nicht wunschgerecht
landen würde, hielt er vorsichtshalber den „Aufbau des Sozialismus
in einem Land“ für möglich. Ansonsten hätte er den
Menschheitstraum grundsätzlicher „Gerechtigkeit“ in
unbestimmbare Ferne verschieben müssen. Nein, das konnte er nicht
verantworten - er probierte das Mögliche … Eines aber war nicht
möglich: der Sozialismus. Für ihn konnten nur einige Grundlagen
geschaffen werden.
Verstehst
du: Alles, was wir bisher an über den Horizont des Kapitalismus
Hinausweisendes praktisch erlebt haben, war im originär
marxistischen Sinne noch kein „Sozialismus“; „Kommunismus“
schon gar nicht. Wenn wir schon Begriffe brauchten, dann war dies am
ehesten eine „abgebremste Revolution“. Es waren
„Übergangsgesellschaften“.
Wir
dürfen uns dabei „Revolution“ nicht im engsten politischen Sinn
als eine „Machtergreifung“ vorstellen. Im philosophischen Sinne
beschreibt der Ausdruck „Revolution“ nur den relativ schnellen
Übergang von einer „Qualität“ zu einer tatsächlich
grundsätzlich neuen.
„Schnell“
nicht aus der Perspektive eines Menschenlebens. Bei der Frage der
„kommunistischen Gesellschaftsformation“ geht es darum, eine
menschliche Kultur zu erschaffen, die über 10000 Jahre
„Klassengesellschaft“ mit ALLEN ihren Elementen ins Grab der
Geschichte versenkt. Was die Menschheit in ihrer gesamten Entwicklung
aus dem Tierreich hervorgebracht hat, wird neu organisiert. Die
Menschheit gestaltet ihre Welt als Ganzes erstmals bewusst und
vorsätzlich geplant. Erstmals kann sie das. Schon allein deshalb ist
„die Revolution“ nicht mit dem Schuss eines Panzerkreuzers
vollbracht. Damit beginnt erst der lang andauernde Prozess, bei dem
Jahrzehnte eben „kurze“ Zeiträume sind. In diesem Sinn kann
sogar der gesamte „Sozialismus“ noch als „evolutionäre
Revolution“ verstanden werden. Also es muss sich das grundsätzlich
Neue erst entwickeln. In ihm sind BESTIMMTE GRUNDLAGEN
notwendigerweise real vorhanden, während andere sich darauf
aufbauend allmählich ausprägen. Das schließt nicht aus, dass
entgegen Marx, Engels und Lenin selbst der Übergang vom Sozialismus
zum entwickelten Kommunismus von der Form her „revolutionär“
vollzogen werden wird. Das wäre unter anderem abhängig von der
Stärke der institutionalisierten Bürokratie. Vom philosophischen
Wesen her ist auch er auf jeden Fall eine Revolution. Wie die
Übergänge von der Sklavenhalterordnung zum Feudalismus und von dem
zum Kapitalismus, die ja alles Ausbeuterordnungen blieben.
… Entschuldige,
ich vergaß, dass du auch mit diesen Begriffen nichts anfangen
kannst. Also Ausbeutung bedeutet, dass dem Arbeitenden nur der Teil
seiner Arbeitsergebnisse überlassen bleibt, den er samt den Seinen
zum Überleben braucht, während sich das darüber hinausgehende
Mehrprodukt der Besitzer der Produktionsmittel aneignet.
Untergeordnet ist dabei, wie er dies tut und was alles als zum Leben
der Nichtbesitzer notwendig anerkannt wird. Der „Ausgebeutete“
muss nicht notwendig arm sein. Er muss nur Mehrprodukt erzeugen. Als
Sklave gehörte er nicht einmal sich selbst und wurde verschlissen
wie eine Maschine. Im Feudalismus, du sagst Mittelalter dazu, lebte
eine Klasse von den Abgaben und der anteilig unbezahlten
Pflichtarbeit der Arbeitenden. Im Kapitalismus kann und muss der
Arbeitende zeitlich beschränkt seine Arbeitskraft verkaufen. Durch
den hohen Anteil der schon in Maschinen vergegenständlichten Arbeit
am Gesamtwert braucht er nur noch eine minimale Arbeitszeit, um damit
den Seinen eine gute Reproduktion zu sichern. Der größere „Rest,
das Mehrprodukt, bleibt privat.
Darf
ich eine naturwissenschaftliche Vereinfachung einschieben, um die
philosophischen Beziehungen von Qualität und Quantität, Revolution
und Evolution zu veranschaulichen? Ich tu es einfach:
Der
Übergang von flüssigem Wasser zu Wasserdampf ist zum
Beispiel eine Revolution. Als uns das in Studentenzeiten
nahegebracht werden sollte, begann der Vortrag mit einer
Unterstellung: Wasser von „Zimmertemperatur“ wird zum Kochen
gebracht. So dargestellt ist der Vorgang bereits ein bewusst
beabsichtigter. Diese Gerichtetheit war erforderlich, um folgende
Frage aufzuwerfen: Welche aufgewandte Energie ist wichtiger: die, die
gebraucht wird, um das Wasser von 20 auf 30, von 30 auf 40 … von 80
auf 90 Grad zu erhitzen oder die, die den Übergang der
Wasserteilchen von ihrer flüssigen in die gasförmige Form
ermöglichen? Nur dieser letzte Vorgang erscheint als „Revolution“
- das andere ist Evolution. Damit es aber zu einer solchen Revolution
kommen kann, sind die entsprechenden Evolutionen, also die
allmählichen Aufladungen der Wasserteilchen mit kinetischer Energie,
unumgänglich. Es gibt kein Teilchen, das direkt von 20 Grad auf
Dampf umschlägt.
Merkst
du was?
Das
Modell enthält Haken, die auf unsere gesellschaftlichen Revolutionen
übertragbar sind.
Von
einer gegebenen Menge Wasser gehen „in der Natur“ nämlich nie
alle Teilchen gleichzeitig vom flüssigen in den gasförmigen Zustand
über. Man kann also „viele Revolutiönchen“, also Vorgänge bei
jedem einzelnen Teilchen, unterscheiden von „der Revolution“ als
Prozess. Letzterer ist der für uns interessante. Er beginnt mit den
ersten gehäuften „Revolutiönchen“ und endet, wenn alles Wasser
verdunstet ist.
Hübsch
zu beobachten sind Probleme solcher Revolutionen beim Kochen im Topf.
Dort kommt nämlich erschwerend dazu, dass die ersten
Wasserteilchen, die die Siedetemperatur erreicht haben, unten, also
bei der Herdplatte als Energiequelle auftreten.
Die
müssen nun zwischen den kühleren Teilchen hindurch zur Oberfläche,
sprich: zu ihrer individuellen Revolution. Dabei erwärmen sie die
anderen mit, werden aber selbst wieder abgekühlt. Dadurch gibt es
unter Umständen also „Konterrevolutiönchen“. Erst mit
steigender Gesamtwärme dampfen dann immer mehr wirklich in die
Freiheit ab. Es verdampfen im offenen Topf trotzdem schon
Wassertropfen, obwohl das Wasser in seiner Gesamtheit noch nicht
kocht.
Der
Ablauf dieses Revolutionsspiels lässt sich manipulieren. Durch einen
Deckel und durch Gewicht auf dem Deckel. Auf diese Weise entsteht ein
geschlossenes System. Denn die zugeführte Energie verbleibt im
offenen System nicht vollständig in den zu revolutionierenden
Wasserteilchen, sondern wird von der kühlen Umgebung abgezogen. Je
bewegter diese Umgebung ist, umso mehr. Ohne beständige Neuzufuhr
von Energie hat das „Restwasser“ unter Umständen noch einen
Moment 99, dann 98, 97 usw. Grad und aus ist´s mit Revolution. Steht
dagegen der Inhalt des Topfes unter Druck, kann ein Teil der Teilchen
deutlich mehr als die „normale“ Siedetemperatur haben … und
bleibt trotzdem flüssig. Dieser Teil holt dann seine Revolution mit
dem Entfernen des Deckels in kürzester Zeit geballt nach. Wie lange
die beiden Abläufe zu beobachten sind, ist dabei nicht die Frage.
Revolution ist der ganze Vorgang, durch den aus einem Topf mit Wasser
ein Topf mit „Luft“ geworden ist. So richtig nimmt man das Ganze
aber nur dann als „Revolution“ wahr, wenn man den Deckel abnimmt
...
Unser
menschliches Denken abstrahiert meist davon, dass auch in der Natur
alle Prozesse an konkrete Bedingungen gebunden sind. Viele dieser
Bedingungen erkennen wir gar nicht als solche, weil sie uns als
selbstverständlich gegeben erscheinen. Das sind sie ja meist auch.
Wer
denkt schon darüber nach, wenn er ein Lagerfeuer entzündet, dass
die dabei sich vollziehende Hauptreaktion an mehrere „Bedingungen“
geknüpft ist. Kohlenstoff reagiert mit Sauerstoff zu Kohlendioxid,
wobei die erwünschte Energie frei wird. Bedingungen?! Na, Sauerstoff
und Kohlenstoff müssen da sein … und was da brennen soll, sollte
trocken sein. Da hört die Durchschnittsbetrachtung aber schon auf.
Kommst
du auf die Idee, dass für diesen Vorgang mindestens noch ein
„offenes System“ und demzufolge eine gewisse „Kälte“ (und
das Fehlen anderer Stoffe mit ähnlichen Wirkungen wie das Wasser)-
notwendig ist? Besonders die Kälte wird als „Vorsatz“
unterstellt – wir betreiben ja diese Verbrennung meist, um uns zu
wärmen. An das „offene System“ aber denkt kaum jemand.
Normalerweise
werden alle Vorgänge so beschrieben, als vollzögen sie sich in
einem geschlossenen System. Von allem, was „draußen“ passiert,
wird abstrahiert. Es verkompliziert und lenkt ab. Das Lagerfeuer ist
dagegen ein offenes System: Die Reaktionsprodukte und die Masse aller
Energie entschwinden in den freien Raum.
Komplizierter
würde die chemische Reaktion, wenn man sie in einen (Kachel-)Ofen
verlegte. Hier wird das relativ offene System nur begrenzt künstlich
hergestellt. Nun soll es Leute gegeben haben, denen war das System zu
lange offen. Die drehten den Ofen zu. Es entstand ein relativ
geschlossenes System. Relativ insoweit, als dass ein Teil der Energie
weiterhin nach draußen abgegeben wurde. Das war im Sinn der Sache:
Nicht der Ofen, sondern das jeweilige Zimmer sollte ja wärmer
werden. Aber im Verbrennungsraum verschob sich das Stoffverhältnis:
Es verblieb mehr Kohlendioxid im System. Da es ausreichend heiß war,
konnte ein Teil der Energie dadurch chemisch gebunden werden, dass
sich das CO2 mit dem Kohlenstoff verband zu Kohlenmonoxid. Ein Teil
dessen verließ jenes relativ geschlossene System, drang in das
wiederum relativ geschlossene System „Wohnzimmer“ … und
schläferte die dort Ruhenden dauerhaft ein.
Es
reagiert eben Kohlenstoff nicht bedingungslos (nur) mit Sauerstoff …
Bei
JEDER Reaktion, die man bewusst herbeiführen will, muss man eben die
wesentlichen Bedingungen schaffen, die zum Ablauf erforderlich sind.
Logischerweise muss man sie dazu kennen.
Nun
gibt es den Begriff „objektiv“, den ich auch gern gebrauche. Der
sagt in diesem Sinne „nur“ aus, dass eine „Reaktion“ immer
stattfindet, wenn alle Bedingungen dafür gegeben sind – unabhängig
davon, ob „man“ das wollte. Naturgesetzmäßig.
Um
auf das Kohlenmonoxid aus dem Ofen zurückzukommen:
Selbstverständlich kann man die Reaktion auch vorsätzlich zum
Suizid oder Mord benutzen. Es ist aber nicht die Frage, mit welcher
Absicht zu einem bestimmten Augenblick der Ofen zugedreht worden war,
sondern dass das dann geschah, als die Bedingungen für die
CO-Redox-Reaktion besonders günstig waren. Also das gleiche Zudrehen
des Ofens kann sich mal so und mal so auswirken.
Zum
Nachdenken über die Verwendbarkeit eines solchen Bildes für
gesellschaftliche Handlungsweisen sollte noch hervorgehoben werden:
Im Umgang mit dem Ofen wurde immer mit mindestens einem Vorsatz
gehandelt … und wenn es Sparsamkeit war, weil der Kachelofen
weniger lange Wärme abgäbe, wenn alle Kohle darin schnell
niedergebrannt wäre.
Für
gesellschaftliche Vorgänge, meinetwegen auch nur die psychologische
Erklärung für das Handeln eines Menschen, müssen wir vereinfachen.
Wir vernachlässigen immer Besonderheiten, die bei einem bestimmten
Vorgang nebensächlich sind oder scheinen. Bauen wir ein geistiges
System aus solchen Vereinfachungen, läuft es auf ein „Wenn …,
dann …“ hinaus. Das ist dann Determinismus. So mag zwar die
„Arbeiterklasse“ in ihrem „Wesen“ die Klasse sein, die
berufen gewesen wäre, längst den Weltsozialismus errichtet zu
haben, aber dann müssen wir eben betrachten, ob wir nicht zu viele
Bedingungen vernachlässigt haben, und fragen, welche das sind.
Nein,
ich habe nicht vergessen, dass ich eigentlich hatte begründen
wollen, warum ich das Scheitern der Novemberrevolution in Deutschland
für die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts halte. Um es kurz
zu sagen: Eben jenes Scheitern schuf damals bereits die Bedingungen,
die danach allen „Realsozialismus“ am Entfalten hinderten – in
gewisser Weise bis zu dessen Untergang. Aus dem Geburtsschaden des
„Realsozialismus“ erwuchsen eben die meisten folgenden
„Verirrungen“ in der Wirklichkeit. Dass dieser „Realsozialismus“
gewesen ist, wie er eben war, macht es nun auch so schwer, einem
normalen Menschen zu erklären, wo wir tatsächlich hin gewollt
hatten – und warum „wir“ immer noch dorthin wollen (müssen).
Wir sind der angestrebten Gesellschaft in den „realsozialistischen“
Staaten wie der DDR ja zumindest näher gekommen, aber um einen
Preis, der ins „rechte“ Licht gerückt das ganze notwendige
Projekt diskreditierte. Dabei wäre die Erfahrung, die wir mit dem
„realen Sozialismus“ gemacht haben, vergleichbar mit einem
Kachelofen, aus dem bei erster unsachgemäßer Bedienung
Kohlenmonoxid ausgeströmt ist. Darf man daraus ableiten, für ewig
Kachelöfen zu verdammen, weil man sich durch sie vergiften kann? Das
ja wohl nicht. Dass heute andere Gründe für andere Heizungen
sprechen, bekräftigt nur die Erwartung, dass das, was wir ab heute
als Sozialismus und Kommunismus gestalten würden, etwas Besseres
wird als das, was die Sowjetunion und die DDR damals hätten
gestalten können.
Die
Perspektive Kommunismus muss von den Massen gewollt werden – egal,
ob man sie nun so nennt oder nicht. Es reicht einfach nicht, jene
einzelnen Stückchen des „Kapitalismus“ nicht zu wollen, die
gerade am meisten weh tun. Es reicht nicht einmal, den Kapitalismus
insgesamt nicht zu wollen. Wir müssen auch etwas Anderes,
Alternatives bewusst wollen und darauf hinarbeiten. Im Chaos des
wirren Handelns der Vereinzelten reproduziert sich der Kapitalismus
sonst nämlich immer selbst – und zwar als sozialdarwinistische
Auslese der „Stärksten“. Also mit zumindest faschistoider
Tendenz. Der „Sozialstaats-Kapitalismus“, den manche wieder haben
wollen, war ausschließlich als Wirkung des „Realsozialismus“
untergegangener Prägung möglich. Im „realen Kapitalismus“
können nur Starke ein vorübergehendes „Gleichgewicht“ bilden.
Das heißt, es müssen allein schon ausreichend Gegenkräfte
organisiert wirken, um den Kapitalismus in seinem Inneren weniger
„kapitalistisch“ zu machen.
Es
muss dazu wenigstens unterschwellig die Systemfrage im Raum stehen.
Solange es um das Erzielen von Maximalprofit geht, wäre selbst ein
Erfolg gegen die „Atomlobby“ eben nur der Umstieg in die nächste
Gefahr für die Menschheit, mit der sich die dicke Knete machen
lässt. So viel besser waren die Machtorgane des Realsozialismus
nicht als die der kapitalistischen Staaten – trotzdem gab es in
allen „Ostblock“-Ländern keinen relevanten Rauschgifthandel und
keine damit zusammenhängende Kriminalität, keinen Menschenhandel,
kein Rotlichtgewerbe, Ludentum usw.
Derartige
extreme Profitmachereien gibt es trotz ihrer juristischen und
ethischen Verfolgung in kapitalistischen Grauzonen weiter, während
ihnen auf anderem gesellschaftlichen Boden einfach die Nahrung fehlt.
Wenn wir aber den realen Kapitalismus mit geballter Gegenkraft zu
jedem Zugeständnis, weniger Kapitalismus zu sein, zwingen müssen
und können, warum beseitigen wir ihn nicht ganz und machen etwas
Eigenes daraus? Das muss ja nicht den Namen Sozialismus oder
Kommunismus tragen, es muss nur so funktionieren, wie Sozialismus und
Kommunismus funktionieren sollten.
Thor,
deiner Mail entnahm ich ein wüstes Sammelsurium an Gedanken. Du hast
so viel Richtiges erkannt. Du läufst mit keiner rosaroten Brille
herum, erkennst lauter Symptome, die bei den heutigen Verhältnissen
weh tun, nennst richtig die Krankheit beim Namen: „Kapitalismus“.
Warum traust du dich nicht auszusteigen? Wenn man weiß, dass der
Zug in den Abgrund rasen wird, dann hat man doch nur zwei
Möglichkeiten: Entweder man weiß, dass noch ein Bahnhof kommt, an
dem man in Ruhe aussteigen kann, oder man springt während der Fahrt
ab, wenn die Notbremse kaputt ist. Und eigentlich sollte man noch so
viel Gewissen haben, die anderen zu warnen – wenigstens die, die im
selben Abteil sitzen. Siehst du, und deshalb versuche ich, dass du
sozusagen den Zug verstehst ...
Normalerweise
geht unser Verständnis von dem aus, was es kennt beziehungsweise
was es gelernt hat – was es also zu kennen meint. Auch, wenn etwas
anders ist als das Bekannte, greifen wir zu seiner Erklärung auf
Bekanntes zurück – und finden auch etwas. Nun stehen wir aber beim
„Kommunismus“ vor etwas völlig Unbekanntem und Neuem. Wir
müssten also alle vertrauten Pfade verlassen. Aber Gnade, uns
begegnen „Zeichenkombinationen“, die wir mit unserem erlernten
Zeichensatz „lesen“ können. Dann tun wir das auf Teufel komm
raus und versuchen, die nicht identifizierbaren Zeichen auf schlecht
geschriebene bekannte zurückzuführen. Schneller als eigentlich
möglich haben wir uns unsere Meinung gebildet, bilden wir uns ein zu
wissen. Du, das ist nicht als Vorwurf gemeint. Das geht mir doch auch
so. Ich bin aber gewarnt, weil ich das weiß.
Um
ein paar Eigenschaften des Kommunismus vorausahnen zu können, hätten
wir als einzigen Anhaltspunkt die Zeit vor den Klassengesellschaften.
Nur … wir wollen doch nicht auf die Bäume zurück! Wir können
höchstens überlegen, welche Denkweisen sich durch die
zurückliegenden Jahrtausende Herrschaft zwischen den Menschen
verändert haben könnten, welche sich also demnach wieder
„zurückbilden“ müssten, wenn die Bedingungen, die sie gefördert
haben, weggefallen sein werden. Der Hauptteil aller dieser heute als
„natürlich“ und „selbstverständlich“ erscheinenden
Denkweisen hat ja materielle Ursachen. Die aber ersetzen wir durch
andere, wenn wir den Kommunismus aufbauen,.
Manche
Formen sozialer und praktischer Vernetzung von Menschen können wir
uns heute noch nicht vorstellen, weil die Beziehungen, die ihnen
zugrunde liegen müssen, noch nirgends vorgelegen haben.
Und
Analogien zum „Urkommunismus“ produzieren eine unbestimmbare Zahl
von Fehlern. Die soziale Hauptfessel der „Ur-Menschen“ fällt ja
für den „richtigen“ Kommunismus glücklicherweise weg: der
materielle Mangel.
Also
… Unser natürliches Denken bietet uns voreilige Schlüsse an, weil
wir aus Bekanntem auf für uns absolut Ungewohntes zu schließen
versuchen. Wir können uns nur mit „Krücken“ behelfen: Als
solche brauchen wir Fantasie und die Logik aus
dialektisch-materialistischem Schlussfolgern. Und nun erkläre man
einem „Materialisten“, er brauche Fantasie, und dir, du musst
materialistisch denken! Dabei heißt „materialistisch denken“
nur, zu berücksichtigen, dass es für jede Denk- und Verhaltensweise
materielle Gründe gibt, die sie tendenziell hervorbringen, andere
materielle Verhältnisse langfristig mit einer gewissen Sicherheit
also andere Denk- und Verhaltensweisen zu den vorherrschenden machen
…
Aber
erlaube mir zuvor noch ein Kratzen an gewohntem Denken:
Das,
womit wir alle Erscheinungen, mit denen wir konfrontiert werden,
bewerten, nennen wir selbstbewusst den „gesunden Menschenverstand“.
Das klingt so, als wäre er „dem Menschen“ gegeben. Dabei sollten
wir lieber an unserem eigenen „gesunden Menschenverstand“
zweifeln.
Wenn
ich nun sagte, die Erde ist eine Scheibe, über der sich die Sonne
bewegt, was dann?
Dann nennst du das Unsinn? Gut. Einverstanden. Wir wissen doch alle, dass das falsch ist. Aber jeder sagt, ohne groß darüber nachzudenken, „Die Sonne geht auf“ oder „Die Sonne geht unter“. Ist das nicht auch „falsch“? Aber entspricht nicht genau das unseren alltäglichen Beobachtungen?
Dann nennst du das Unsinn? Gut. Einverstanden. Wir wissen doch alle, dass das falsch ist. Aber jeder sagt, ohne groß darüber nachzudenken, „Die Sonne geht auf“ oder „Die Sonne geht unter“. Ist das nicht auch „falsch“? Aber entspricht nicht genau das unseren alltäglichen Beobachtungen?
Stell
dir vor, wir hätten all die Zusammenhänge von Physik und Astronomie
in der Schule nicht so gelernt, wie wir sie gelernt haben. Was sehen
wir?
Die
Sonne geht morgens auf, bewegt sich in jahreszeitlich
unterschiedlichen Bahnen über den Himmel und geht auf dessen anderen
Seite wieder unter.
Nun
stellen wir uns vor, wir hätten dies als richtige „Beschreibung“
der Natur auch so in der Schule gelernt, verbunden mit der Erklärung,
es sei der unergründliche Wille eines über dem Ganzen wachenden
Schöpfers. Hätten wir daran gezweifelt? Wo kluge Leute unsere
Beobachtung bestätigten? Wie hätten wir reagiert, käme einer
daher, der uns mit (für uns nicht nachvollziehbaren) seiner Meinung
nach „wissenschaftlichen“ Argumenten zu überzeugen versuchte,
die Erde drehe sich als Kugel mit uns obendrauf um jene Sonne da?
Hätten wir ihn nicht mit gutem Recht als Spinner verlacht? Hätten
wir nicht sogar gutgeheißen, den Ketzer zu verbrennen, da er uns
doch mit seiner Darstellung unseres Schöpfers und damit unseres
paradiesischen ewigen Lebens zu berauben versuchte? Können wir heute
so ehrlich sein, dass wir das, in eine andere Zeit hineingeboren und
mit anderem Grundwissen gefüttert, wahrscheinlich so gesehen hätten?
Mit wirklich „gesundem Menschenverstand“?!
Dieser
Ketzer, der eine für heutige Verhältnisse „Allerweltsweisheit“
verbreiten wollte, hätte bei uns verdammt schlechte Karten, wären
wir Durchschnittsmenschen in der Denkwelt vor 500 Jahren oder früher
… Nur weil wir ein neues Weltbild in der Schule gelernt und Bilder
aus der Erdumlaufbahn gesehen haben, glauben wir Anderes zu wissen …
In unsere uns „natürlich“ erscheinende Denkwelt sind also Lehren
Anderer eingeflossen. Rein logisch funktioniert das unabhängig
davon, ob diese Lehren wahr sind, solange sie unserer Alltagspraxis
nicht widersprechen.
Kannst
du dir vorstellen, dich unter anderen Umständen als den heutigen
darüber zu amüsieren, dass wenn in Australien ein Stein „nach
unten“ auf die Erde fällt, er uns aus unser deutschen Sicht nach
„oben“ entgegengeflogen käme? Er fällt uns doch sozusagen ein
Stück entgegen! Oder hast du noch niemals beim Betrachten des
Globusses gedacht, die „da unten“ müssten runterfallen? Wenn nun
unser Lehrer gesagt hätte, ja, natürlich fielen wir „dort“
herunter, deshalb gibt es die andere Seite ja nicht, wären wir auf
„Wissen“ angewiesen, dass es die andere Seite doch gibt.
Für
unser Verständnis „mit gesundem Menschenverstand“ ist es dabei
belanglos, ob in der Schule mit Absicht, also wider besseres eigenes
Wissen des Lehrers oder der ganzen Gesellschaft, oder aus allgemeinem
Unwissen heraus etwas gelehrt würde, was „objektiv“ den realen
Zusammenhang falsch darstellt. Der australische Junge könnte mit
demselben Recht verwundert sein, dass wir nicht von der Kugel
herunterfallen.
Allerdings
ist es nicht immer nötig, die Zusammenhänge so komplex und
verwirrend darzustellen, wie sie insgesamt wirklich sind. Wenn dir
ein Stein „nach unten“ auf den Fuß gefallen ist, interessiert
dich weder, ob dieser Stein aus Sicht eines Australiers nach oben
oder aus Sicht der Sonne in Richtung Pluto oder aus Sicht der Galaxis
in Richtung ihres Mittelpunkts geflogen ist, selbst wenn all das
richtig wäre. Dich interessierte nur, dass du keinen Schuh angehabt
hattest, Schmerzen hast, hinkst und blutest.
Du
siehst also ein: Auch unser so genannter gesunde Menschenverstand ist
davon abhängig, was wir zuvor in den verschiedensten Formen gelernt
haben. Es gibt keinen Fall, bei dem nicht wenigstens ein ganz klein
wenig theoretisches Wissen einfließt. Wäre dies anders, würde
jeder von uns sich heute als Erdscheibenbelatscher empfinden – die
Sonne „geht eben auf“ …
Wenn
aber in dem, was wir – aus welchem Grunde auch immer – einmal
beigebracht bekommen haben, ein Fehler ist, können wir daraus mit
Recht ein Gebäude von „Wahrheiten“ errichten, ohne zu ahnen,
dass wir die idiotischsten „Meinungen“ von uns geben. Wahr bleibt
dabei nur der Zweifel. Weil wir heute wissen, wie sehr wir über die
„Meinungen“ eines Durchschnittsmenschen von vor 700 Jahren den
Kopf schütteln, können wir daraus ableiten, dass dies einem
Menschen aus der Zeit 700 Jahre nach uns mit unseren genauso gehen
könnte – nicht in allen, aber durchaus bei vielen heutigen
„Selbstverständlichkeiten“. Allerdings wissen wir nicht, welche
Einzelheiten einmal solch Kopfschütteln auslösen werden – wie ein
Damaliger meine „jedem gesunden Menschenverstand widersprechende“
Weltsicht mit der Bewegung der Sonne um die Erde zurückwiese.
Irgendwie glaube ich, wir beide teilen die Angst, es könnte die
Menschen in 700 Jahren, die über uns den Kopf schütteln,
unseretwegen nicht geben.
Anders
gesagt: Wir sind leicht für dumm zu verkaufen und merken es meistens
nicht. Allerdings sind wir nicht wehrlos. Es gibt natürlich neben
jenen „Wissenschaften“ und Schulen, die uns die uns umgebende
Welt als letztlich endgültig vorkauen, auch immer wissenschaftliche
Zweifler. Und mit denen zusammen können wir durchaus mit eigenen
Augen sehen: Der Stein fällt für uns in einer Rakete nicht nach
„oben“ oder „unten“, er bewegt sich in Folge der Gravitation
- ohne schwebt er frei im Raum. Etwas zur Entwicklung der dabei
erforderlichen kreativen Fantasie wollen wir trainieren. Also
pflücken wir Äpfel vom Baum der Erkenntnis …
Also
…
Ich
hoffe du verstehst, dass alles, was bisher in der realen Welt
möglich war, noch sehr weit vom Sozialismus, also erst recht vom
Kommunismus entfernt war und entfernt sein musste. Im höchsten
philosophischen Sinn wäre der „Kommunismus“ nämlich eine von
der Materie angestrebte Entwicklungsrichtung, die wir zwar
anzusteuern anfangen müssten, die aber noch unheimlich weit entfernt
ist. Sie setzt die bewusste Einsicht in die Entwicklungszusammenhänge
der menschlichen Gesellschaft und ein dem entsprechendes Handeln bei
den Massen voraus, den „gesunder Menschenverstand“ allein nicht
erreichen kann – unser heutiger schon gar nicht.
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