Sagen wird man über unsre Tage
sagen wird man über unsre tage
den einen wettbewerb
den hatten sie verloren
groß war ihr mund
die kehle ohne frage
jedoch dem mahnen wehrten sie die ohren
sie kauten schwer und lange noch an diesem erbe
doch erst durch ihren neuen anbeginn
so ist nun mal das menschliche gewerbe
bekamen Marx und Einstein endlich sinn
( ... gekürzt)
Keine
Ahnung, wie ich geworden wäre, wäre meine Familie nicht im Frühjahr
vor Abschluss der ersten Klasse in die Stadt gezogen. Zuvor war ich
als Außenseiter regelmäßig verprügelt worden. Das wichtigste
Gefühl meinen künftigen Mitschülern gegenüber war deshalb anfangs
die nackte Angst. Um keinen Preis wollte ich aber wieder so isoliert
bleiben wie zuvor.
Die
Rolle des Chefs war vergeben, die des Klassenkaspers frei, und
wenigstens in den folgenden drei Jahren füllte ich sie fantasievoll
aus. Den Unterricht zu stören fiel mir nicht schwer und die dümmsten
Kinderwitze verwandelten sich in meinem Mund in lange Geschichten.
Die Rolle hatte mehrere „Vorteile“: Man schenkte mir
Aufmerksamkeit und beim großen Mitschülermobbing konnte ich
zusehen. Das Hauptopfer war über viele Monate ein Mädchen, das
durch ihren Geruch und ihre staksigen Bewegungen auffiel und das
Hinundherschubsen dadurch vergnüglich machte, dass sie so herrlich
verängstigt „Was hab ich euch getan?“ oder „Lasst mich doch in
Ruhe!“ jaulte. Die Lehrer konnten nicht eingreifen, weil der Terror
erst nach Unterrichtsschluss draußen vor dem Schulgebäude anfing.
Der Hofausgang lag neben der Haupttür, sodass „Erdnuss“ nicht
ungesehen die Schule verlassen konnte – und immer war wer vor ihr
da, um den sich dann die anderen Wartenden sammelten.
Zuerst
war es ein Triumph, als das Mädchen aus der Schule genommen wurde
und in eine „Hilfsschule“ kam. Dann aber … Im Unterbewusstsein
einiger Mitschüler meldete sich wohl das Gefühl, das Leben eines
Mitschülers versaut zu haben. Sie hatte uns ja wirklich nichts
getan. Zumindest in mir erwachte das schlechte Gewissen, dass ich
lachend dabeigestanden hatte.
Mit
dem Verschwinden des „Standardopfers“, an dem meine Mitschüler
ihren Schulfrust abreagiert hatten, begann die Suche nach neuen. Wir
waren eine Klasse mit Jungen-Überschuss und die körperlich
Stärkeren begannen nun die Jagd auf Schwächere. Damit geriet auch
ich wieder ins Visier. Allerdings hatte sich die Situation innerhalb
der Klasse verändert. Ich hatte inzwischen einen Kreis von
kindlichen Partnerschaften: Einen Freund, der an mir hing wie Watson
an Holmes, und noch ein paar, durch die ich mich als Bandenchef
fühlte. Ausnahmslos aber nur körperlich Schwache. Die gegenseitige
Unterstützung bestand unter anderem darin, dass ich bei den
Hausaufgaben half und dafür meine Kunst-Werke für den
Zeichenunterricht vorbereitet bekam, sodass die Vieren in Zeichnen
nun verschwanden. Meine logische Lektion: Andere konnten etwas, was
ich nicht konnte, und umgekehrt. Wenn dies auch offiziell nicht
erwünscht, eigentlich sogar Betrug war, so stand doch fest, dass die
gegenseitige Nutzung unserer Stärken allen Beteiligten Vorteile
brachte. Es machte mir dabei wenig aus, dass ich mehr einbrachte, als
ich herausholen konnte.
Das
Problem der Prügel, des Mobbings der Schwachen, war damit aber noch
nicht gelöst. Es fanden nämlich immer ausreichend körperlich
Überlegene zusammen, um uns Schwächere zu quälen. Was am meisten
auffiel: Die da prügelten, waren „leistungsschwache“ Schüler,
die sich auf solche Weise ihr „Sieg-Erlebnis“ aus der Schule
holten, die Betroffenen jedoch versuchten – letztlich meist
erfolglos – sich im Bewusstsein der bevorstehenden Niederlage der
körperlichen Auseinandersetzung zu entziehen … sie liefen also
davon. Eigentlich ging dies so bis Klasse 7. Und dann passierte
etwas, was ich im Nachhinein vielleicht überbewertet und
fehlinterpretiert habe. Aber es ist eben genau so passiert:
In
einer großen Hofpause war es mir gelungen, alle, die auf „meine“
Seite gehörten, zu sammeln. Es kam zur Schlacht. Diesmal blieben wir
nicht nur (wie sonst auch) zahlenmäßig überlegen, sondern wir
kämpften auch geschlossen. Und wir beendeten diese Hofpause als
Sieger. Womit ich nicht gerechnet hatte, trat ein: Von kleinen
„Kabbeleien“ (wie das meine Mutter genannt hätte) abgesehen,
trat ein dauerhafter Friede ein. Nicht, dass wir nun alle Freunde
geworden wären, aber das permanente Massenmobbing war zu Ende.
Klar,
wir waren einfach insgesamt reifer geworden und diese „Schlacht“
war vielleicht nur „Anlass“ der Veränderung, aber auf jeden Fall
erlebte ich hier die Siegpotenz von Underdogs, die als solidarische
Gemeinschaft kämpfen. Ein Anhänger körperlicher Gewalt bin ich
damit nicht geworden. Allerdings hatte ich erlebt, dass sie notwendig
gewesen war, um die Macht der Gewalt zu beenden.
Ab
Klasse 7 wollte man unser Bewusstsein durch Staatsbürgerkunde- und
Geschichtsunterricht „bilden“. Rückblickend muss ich allerdings
sagen, dass die ethischen Normen, die nun Namen bekamen, längst
geprägt waren, indem sie uns vorgelebt oder eben nicht vorgelebt
wurden. „Gut“ oder „Böse“ war uns greifbarer als als
„Sozialismus“ und „Kapitalismus“ ...
Vielleicht
hätte ich unter anderen Umständen ein freundlicheres Verhältnis
zur „Nationalen Volksarmee“ der DDR entwickelt, aber die
Verhältnisse waren eben nicht so. Beispielsweise war meine
Sportbegeisterung nie so groß, dass mich Körperertüchtigung
gelockt hätte, und als emotional egozentrischer Anarchist war mir
jeglicher unterordnender Gehorsam zutiefst zuwider. (In einem
krankhaften Anfall von Übermachtssadismus spielte ich einmal meinem
engsten Freund gegenüber einen SS-Mann: Ich zwang den schwarz
Gelockten durch brutale Gewalt dazu „Ich bin eine dumme Judensau!“
auszurufen, um freizukommen … und ich könnte nicht sagen, vor wem
ich mich nachher mehr ekelte: vor ihm, der sich derart demütigen
ließ, oder vor mir, dass ich zu so etwas fähig gewesen war …)
Rund wurde meine Grundhaltung zum Thema Armee aber eigentlich erst
dadurch, dass es in der Klasse bei den Auseinandersetzungen mit der
Staatsbürgerkundelehrerin einen einzigen Schüler gab, der nach dem
Lehrerinnenmund gerecht werdenden Antworten suchte. Dieser
Speichellecker mit mäßigem geistigen Niveau strebte an, Offizier zu
werden. Ich konnte ihn mir einfach zu gut in preußischen Stiefeln
vorstellen. Das schon vorher ausgeprägte Bild, Körperkraft zeigten
die, denen es an Geisteskraft mangelte, wurde untermauert – nur
eben auf höherer Ebene. Du siehst also: Auch ich bin nicht frei von
Vorurteilen ...
Die
Stabü-Lehrerin hat bei mir dann doch etwas bewegt. Im Nachhinein tut
sie mir leid. Es war mir ein teuflisches Vergnügen, den ungeliebten
„Rotlicht“-Unterricht zu sprengen. Hier konnte ich die ganze
spitzfindige Raffinesse an die Front werfen. Ich hatte die meisten
Schulbücher schon vor Beginn der Unterrichtsjahres überflogen. Im
Staatsbürgerkunde-Lehrbuch fiel mir dabei etwas auf: Außer bunten
Bildchen gab es Kästchen mit Zitaten der „Klassiker“ des
Marxismus-Leninismus, die ich sozusagen als die Verkündigung Moses
ansah (so waren sie wohl auch gemeint), während der eigentliche Text
das profane Bla-Bla war. Das Gute daran: Es ließen sich in dem
profanen Zeug Widersprüche zu Gottes, Pardon: Marxens, Kernsätzen
in den Kästchen entdecken. Also sprengte ich Stunden mit der
Beweisversuchen, dass das, was wir als wunderbare Wirklichkeit
unserer größten DDR aller Zeiten erklärt bekommen sollten, gar
nicht das war, was der große Marx sich als sozialistische
Gesellschaft vorgestellt hatte. Widerspruch als Denksport.
Die
intelligenten Mitschüler verfolgten die Diskussionen mit Vergnügen
und unterstützten mich nach bestem Wissen. Die weniger intelligenten
freuten sich, dass die Stunden nicht als langweilige Lernstunden
versandeten. Nur eben jener Möchtegern-Offizier mühte sich um
Unterstützung der Lehrerin. Die war von uns Jungen begeistert. Weil
wir so offen Interesse zeigten, ließ sie ihre Stundenvorbereitung in
der Tasche und versuchte, unser Denken zu lenken. Argumente wurden
nicht niedergeschlagen und „Erklärungen“ vermittelt, wie wir
etwas sehen sollten, sondern sie versuchte, uns die
Widersprüchlichkeit von Vorgängen begreiflich zu machen. Nicht
einfache Antworten, sondern Bewegung und unter der Oberfläche des
offen Sichtbaren gebe es erkennbare Zusammenhänge, um deren
Aufdeckung man sich bemühen muss – das nenne man im Sinne von Marx
zu handeln und das könne sogar Spaß machen.
Sie
verführte mich damit zu einem Trugschluss: Voreiligerweise dachte
ich, so sei politische Bildung. Im Geschichtsunterricht wurde ich
eines Besseren belehrt. Der Geschichtslehrer frönte der großen
Liebe zu seinen faszinierenden Tafelbildern. Mit feiner Schrift
verteilte er über die ausgeklappte Tafel (mitunter einschließlich
Rückseite) Kästchen, zwischen denen er Pfeile fliegen ließ. Vorher
– nachher, Ursache – (Anlass) – Wirkung … Extrem schematisch,
obwohl nicht einmal undialektisch. Von der Ursache ein dicker Pfeil
zur Wirkung und darunter dann der dünne Pfeil in Gegenrichtung
dafür, dass das, was eigentlich Folge war, auf die ursprüngliche
Ursache zurückwirkte und dass es eben Haupt- und „Neben“-Gründe
derselben Sache gebe.
In
diesem Fach wurde erstmals laut das Wort „Kommunismus“
ausgesprochen. Über den Begriff wusste ich wenig. Eigentlich nur,
dass das eine „klassenlose Gesellschaft“ wäre, in der es „keinen
Staat“ gäbe. Mit Klassen konnte ich wenig anfangen, eigentlich nur
mit Schulklassen, Staat aber, da gehörten also mindestens all die
Gewaltinstrumente dazu. Die hat jeder, um sich selbst zu verteidigen.
Ließe also eine Seite ihren „Staat“ verschwinden, wäre der Weg
der anderen Seite frei, die eigene Macht zu erweitern. Also könnte
es einen „Kommunismus“ auf der Welt auf jeden Fall nicht geben,
solange es zugleich das Anti-System Kapitalismus gäbe … Mit dieser
Schlussfolgerung begann ich; zur logischen Herleitung kam ich nicht
mehr. Mir wurde sofort das Wort entzogen, mich traf ein Schwall von
Flüchen. Mit der übelsten Bezeichnung konnte ich nichts anfangen:
„Trotzkist“. Ausgesprochen als sei es noch etwas Schlimmeres als
Faschist und ich hatte gerade schlimmstmögliche Feindpropaganda in
den Raum geworfen. Alles nur wegen einer primitiven logischen
Ableitung, hinter der ich, wenn auch umfassender begründet, heute
noch stehe. Wenn ich dem entsetzten Lehrer noch an den Kopf geworfen
hätte, dass also der entfaltete „Kommunismus“ keine Politik der
friedlichen Koexistenz kennen könne … Natürlich habe ich mir bei
diesem Lehrer weitere Schlussfolgerungen verkniffen. Hoffentlich
komme ich bei dir nicht wie dieser Lehrer rüber.
Meine
Sicht der deutsch-deutschen Fragen stammte nicht aus dem
Schulunterricht. Schwerin war glücklicherweise kein „Tal der
Ahnungslosen“. Schon früh, ich erwähnte es schon, bezog ich die
Nachrichten aus aller Welt nicht rotgefiltert aus der „Aktuellen
Kamera“ sondern gegenmanipuliert von der „Tagesschau“.
Allerdings hatte ich gelernt, dass es keine „Nachrichten“ an sich
gibt. Mir war selbst das aufgefallen, was „Sudel-Ede“ Schnitzler
aus den Westsendungen extrahierte. Auch an der Stelle war ich früh
Außenseiter: Mir gefiel der Typ, der in der trüben Brühe der
anderen Seite fischte.
Ganz
unschuldig an meinem Verständnis „kapitalistischen“ Denkens war
sicher auch nicht, dass alle Verwandtschaft im Westen lebte. Langsam
der kindlichen Überheblichkeit entwachsend entwickelte ich ein
feines Gespür für Herablassung und Überheblichkeiten anderer
Leute. Und eure Pakete … na, du weißt. Insofern war deine
Großmutter mitschuldig an meiner antikapitalistischen, ja eigentlich
an der grundsätzlichen Antihaltung materiell eingestelltem Denken
gegenüber.
Aber
noch etwas zeitlich zurück, als sozusagen kindlich-naive Keime
meiner späteren „kommunistischen Visionen“ gelegt wurden:
Aus
dem, was ich bisher erzählt habe, müsste klar geworden sein, dass
ich nie ein extrem kommunikativer Typ gewesen bin oder gar ein
„Charismatiker“. Es gab aber eben Situationen, wo positive
Gefühle vermittelt wurden. Dazu gehörten einige der Veranstaltungen
der Pioniere und der FDJ. Meine Mutter hatte mich zuerst auch zur
„Christenlehre“ in die Kirche geschickt, wo uns Geschichtchen
erzählt, und wir, wenn wir brav waren, mit Bildchen (heute würde
man wohl „Sticker“ sagen) belohnt wurden. Für die Anregung
meiner Fantasie waren diese Nachmittage wahrscheinlich sogar positiv.
Aber für mich Acht- oder Neunjährigen war es herabwürdigend, dass
der Pfarrer sie uns Kindern als wahre Geschichten anbot. Ich verstand
da noch nichts von der „Wahrheit“ in Gleichnissen, empfand es
aber als Beleidigung, dass jemand erwartete, ich würde Märchen für
Wirklichkeit nehmen. Das war dann Grund für entschiedenen Protest
bei meiner Mutter und fast das Ende meiner Kontakte zu kirchlichen
„Würdenträgern“. (Später empfand ich hingegen die
Gastfreundschaft von Kirchenleuten auf meinen Tramptouren als
wohltuend.)
Anders
war das bei manchen Pioniernachmittagen. Die nachhaltigsten waren
jene, bei denen wir Eicheln und Kastanien für die Tierparktiere (und
zum Basteln) sammelten. Keine Ahnung, ob unsere Eicheln den Tieren
dort wirklich das Überwintern erleichtert haben. Heute würde ich
sagen, das war auch nicht das Wichtigste. Viel wichtiger war etwas
Anderes: Wir hatten das Gefühl, etwas Nützliches, ja Wertvolles zu
tun, was zugleich richtig Spaß machte. Das heißt, das Sammeln der
Eicheln (und das Werfen nach Anderen) hätte auch OHNE einen höheren
Sinn Spaß gemacht, es war ein vergnüglicher Zeitvertreib; das
Gefühl, sozusagen unserem Patenschwein das Leben zu erhalten, machte
uns aber erst richtig stolz auf eine eigene Leistung. Ich hätte da
nicht an „Kommunismus“ gedacht, aber hat man nicht auch als
Erwachsener Anspruch auf kindliche Freude an der eigenen
Nützlichkeit? Wird sie einem nicht erst durch die Erfahrung von
„allgemeinem“ Egoismus vergällt? Positiv bleiben Reste solchen
Erlebens natürlich besonders dann zurück, wenn man den Erfolg
greifbar gemacht bekommt. Wir waren also eifrige Besucher des
Tierparks, wo uns der Nutzen unseres Tuns von kompetenten Personen
bestätigt wurde. (Mir scheint es selbstverständlich, dass Kinder,
denen solche greifbaren Nützlichkeitserlebnisse versagt blieben,
tendenziell ein Stück weiter zu Egoisten „erzogen“ werden –
ohne eigentlich erzogen zu werden.) Ganz unmittelbar erlebten wir,
dass es schwächere Wesen gibt, die durch unsere solidarische Hilfe
überlebten. Okay … die richtige Vorbereitung auf eine Welt
einzusetzender Ego-Ellenbogen wäre es nicht gewesen … aber darauf
sollten wir ja auch nicht vorbereitet werden.
Solidaritätsaktionen
wie später die für Angela Davis hatten zwei Seiten: Die übertrieben
agitatorische, dass eine Kommunistin einfach unschuldig sein müsse
(was sich im konkreten Fall bestätigte), aber auch eine „rein“
menschliche: Stellt euch schützend vor Menschen, die zum Opfer
legaler (oder halb legaler) Ungerechtigkeit werden (könnten). Eine
gute Sache wird doch nicht allein dadurch „schlecht“, dass sie
mehr oder weniger „staatlich verordnet“ wird. Ich finde es heute
peinlich, wenn ausgerechnet mit diesem Ausdruck „Linke“ den
DDR-Antifaschismus verunglimpfen. Am System des damaligen (nicht)
„realen Sozialismus“ gibt es viele Kritikpunkte. Dass sich ein
ganzes Volk mit den wenigen aktiven Antifaschisten, die das
faschistische Terrorregime überstanden hatten, identifizieren
durfte, als wären wir alle Nachkommen mutiger Antifaschisten, halte
ich für bedankenswert.
Wie
gesagt, ein Großteil der Möglichkeiten, die uns Kindern auf die
Nase gedrückt wurden, passte trotzdem nicht zu meiner sich
entwickelnden Persönlichkeit: Fahnenappelle waren mir kleinem
Anarchisten schon des Einordnens wegen suspekt. Zum Glück hielt sich
die Zahl der militaristischen und Appell-Veranstaltungen, an denen
ich teilnehmen musste, in engen Grenzen. Als wir im Unterricht
Friedrich Wolfs „Kiki“ behandelten, wurde diese Geschichte sofort
eine meiner liebsten. Die „Haltung“ des Hundes, die „Würde“
eines Zwangsappells durch Jaulen lächerlich zu machen, entsprach so
ganz meinem Wesen. Ich starb sozusagen im Kreis der trauernden
Gefangenen und fühlte mich zugleich als einer der ihren. Dabei
begriff ich erst viel später, dass die „Bösen“ in der Erzählung
nicht einmal „echte“ Faschisten gewesen waren, sondern sich ihnen
Andienende. (Solltest du lesen, die Geschichte.)
Gemeinschaftliches
Basteln und Malen und Sport waren mir der blanke Horror. Weil ich es
nicht konnte, wollte ich es nicht. Je besser ich diesen Zusammenhang
an mir verstand, umso besser begriff ich meine Mitschüler, die
Grauen vor den Mathestunden empfanden, weil sie mit lauter Unlösbarem
zusammenstießen.
Dafür
war das Pionierhaus, genauer die Pionierbibliothek darin, für mich
das Paradies. Das Haus wegen seiner vielen Möglichkeiten, die
Bibliothek … Ich glaube, schon in der 5. Klasse hatte sie mir kaum
noch Neues zu bieten und ich besuchte eine „normale“. Mein
Schnitt waren vier bis fünf „richtige“ Bücher pro Woche. Ich
las also kaum Kinderbücher, sondern reiste in die Welten von
Maupassant, Balsac, Dickens und vielen anderen. Ich hatte trotzdem
keine Ahnung, was eine Nutte wirklich war – ich empfinde heute
weder mein Unwissen als Mangel noch die Tatsache, dass es in meinem
Schwerin keine gab.
Durch
jene sehr wilden, individualistischen Reisen durch die Weltliteratur
veränderte sich unbemerkt und unterschwellig mein „Blick“. Ich
war ein Junge, der zu viel geschmökert hatte. Zwar in keinem Karl
May, aber bei Lieselotte Welskopf-Henrich, Jules Verne und
überwiegend in Dingen, die nicht für einen Elf-/Zwölfjährigen
gedacht waren. Und die DDR bot in der Folgezeit weitere Chancen zur
Befriedigung meines wirren Kunsthungers: Jugendstunden und
Theaterkreise. Auf die Mischung kam es an. So wirr, wie ich
ahnungslos vor der „Weltkultur“ stand, so bunt gemixt wurden uns
monatlich verschiedenartige Erlebnisse vermittelt. Opern,
Schauspiele, Ballett, Heiteres … Das hatte einen eigenen Reiz.
Nicht immer hoch kulturellen. Da bemühte sich unsere Musiklehrerin
vergeblich um eine angemessene Einführung. Aber wir besuchten gern
auch Kunstveranstaltungen, die wir kaum verstanden, denn was hätte
es für einen besseren Vorwand gegeben, abends „die Sau
rauszulassen“? Nicht jedem wäre mit vierzehn erlaubt worden, nach
22 Uhr durch die Straßen zu ziehen. Aber nach dem Theater …
Wie
viel es bei jedem Einzelnen Positives bewirkt hat – wer vermag das
einzuschätzen? Aber jeder hatte die Chance, seine Sinne zu schulen.
Und das Staatstheater war gut. Dass dies in irgendeiner Weise ein
„soziales“ Problem sein könnte (außer positiv im Sinne unseres
Gruppenzusammenhalts), wäre keinem eingefallen, denn jeder konnte
sich die Karten leisten. Die Eintrittskarten kosteten uns ja kaum
mehr, als ihr Druck gekostet hatte …
Dann
setzte meine erste „Schreibphase“ ein. Gedichte ... sehr weise,
das Wesen der Welt erklärende und so hölzern holpernde, dass
wirklich nur ich selbst von mir überzeugt sein konnte. Aber es gab
die verschiedensten Fördermöglichkeiten. Einen Zirkel schreibender
Arbeiter der deutschen Post beispielsweise, in dem kaum ein Mitglied
etwas mit der Post zu tun hatte, und viele andere. So begegnete ich
unterschiedlichen Denk- und Betrachtungsweisen. Das ging bis zum
zentralen Poetenseminar der FDJ im Schweriner Schloss und draußen in
der Neubausiedlung. Begegnungen mit kritischen „richtigen“
Schriftstellern, engagierten Menschen, die alle dafür eintraten,
schärfer hinzusehen, „mit dem Herzen“ zu sehen, sich
einzubringen. Begegnungen wurden organisiert, die uns die
Widersprüche von Anspruch und Wirklichkeit von „unserem“
Sozialismus vor Augen führten. Fast noch Kinder erlebten wir jungen
Poeten die zerplatzende Illusion zukunftsfähigen Bauens. Aus der Not
geboren, schnell das Problem zu lösen, jedem, der Wohnraum brauchte,
welchen zu geben, wurden Siedlungen auf die Wiese gesetzt, die nach
etwa 25 Jahren planmäßig durch etwas Neues, Richtiges hätten
ersetzt werden sollen – was dann natürlich nie geschah. So
beschrieb es einer der Projektanten des Neubaugebiets Großer
Dreesch. Viel später erfuhr ich, dass einige der so eifrig
engagierten Autoren für das Ministerium für Staatssicherheit
Berichte geschrieben haben. Sie haben viel zu schreiben gehabt über
uns. Nein. Ich finde es nicht gut. Menschlich traurig. Aber bei
denen, von denen ich es hörte und die ich selbst erlebt hatte,
wusste ich: Aus niederen Beweggründen, zum
Beispiel für Geld, haben sie es nicht getan. Sie waren
wirklich überzeugt, mit ihrem Tun dem „Sozialismus“ zu nutzen.
Dass sie ihm letztlich schadeten, hätte ich damals noch nicht
verstanden.
Ich
war ehrgeizig, wollte immer besser sein. Aber irgendwie war mir klar,
dass ich mich nie wesentlich steigern konnte. Das wäre Zufall
gewesen. Mir blieb nur eine andere Freude: „leistungsschwache“
Mitschüler zu guten Leistungen zu coachen. Also sie nicht
abschreiben zu lassen, sondern sie zu Ergebnissen zu führen, die
„man“ ihnen nicht zutraute. Das Gefühl, heimlicher „Vater“
einer guten Note Anderer zu sein, war nicht zu überbieten. Da konnte
mir niemand etwas vorwerfen – Egoismus, Strebertum, was auch immer
Negatives.
In
der Neunten trimmte ich einen Mitschüler, der ein total gestörtes
Verhältnis zur Mathematik hatte. Nun fiel ich in dem Fach immer noch
aus dem Rahmen: Extrem langsam beim Schreiben konnte ich es mir nicht
leisten, die einzelnen Teilschritte zu lernen und zu verwenden –
ich verwendete abgekürzte Wege, die bei „normalen“ Schülern
nicht akzeptiert worden wären. Mir war umfangreiche Lernerei
suspekt. Was sollte ich nun aber dem Mitschüler erklären? Den
vorgegebenen Weg Schritt für Schritt? Ich entschied mich für die
Logik, die ich für mich entwickelt hatte. Immer wieder testete ich,
was davon „haften geblieben“ war. Bei jedem kleinen Gedanken
fragte er unsicher nervend „Soooo?“ Bis ich dann irgendwann
erklärte, er bekäme jetzt eine Aufgabe, die er bis zum Schluss
allein lösen müsse. Nachher würden wir prüfen, warum eventuell
was falsch sei. Mehrmals versuchte er, mich zu einem Blick auf sein
Blatt zu animieren. Endlich bot er mir eine Lösung an. Beim ersten
Blick schrak ich zurück. 14 Schritte waren normal, er hatte sechs
gebraucht, sodass ich erst rief, so ginge es nicht … Bis ich
feststellte, dass er das, was ich ihm an Zusammenhängen erklärt
hatte, in einem neuen Rechenweg umgesetzt hatte. Den hatte er selbst
entwickelt. Plötzlich zerfiel alle meine „genialische“
Überlegenheit. Nur Geduld war geblieben, sich einem Problem eben
anders als „normal“ zu nähern. Ein „schwacher“ Schüler war
also eigentlich keiner, sondern nur einer, der andere Anregungen zum
Denken brauchte, als er sie üblicherweise erhielt. In diesem einen
Fall hatte ich solch eine Anregung gefunden. Welch ungeheures
Potential musste in den Menschen stecken, wenn man sich ihrer
geduldig annahm! Erstmals erschien mir „Leistung“ als Produkt von
Zufällen und nicht als Ergebnis „guter“ oder „schlechter“
Schüler.
Und
am Ende der 10. Klasse gab es noch eine „Offenbarung“. Meine
Klasse machte eine einwöchige Abschlussfahrt. Zufälle brachten mich
dabei mit einem Schüler zusammen, von dem ich kaum mehr wusste, als
dass er mehrmals nur sehr knapp versetzt worden war. Wir unterhielten
uns viel. Anfangs begeisterten wir uns an „Raumschiff Enterprise“
im Fernsehen. Das wäre ja so ungewöhnlich nicht gewesen. Aber
beeindruckend war das darüber hinausgehende Wissen und Denken des
Jungen, sein … philosophischer Scharfblick. Klar haben wir auch
viel „gesponnen“. Aber wichtiger war, dass ich erstmals bei
jemandem, den ich weit unter meinem geistigen Niveau eingeordnet
hatte – die ganze Schulzeit lang – ein geschlossenes kluges
Denksystem erlebte. Eigentlich machte er sich um die Zukunft der Welt
mehr Gedanken als ich und er vermochte seine Überlegungen
verblüffend klar zu formulieren. Ich bekam das Gefühl, in den
letzten Jahren einen Freund übersehen zu haben, weil ich mich
innerlich zu sehr über ihn erhoben hatte, um ihn überhaupt zu
bemerken. Ich ahnte nun, dass es extrem unterschiedliche
Möglichkeiten gibt, über die ein Mensch für andere, zumindest aber
für einen anderen „wertvoll“ sein kann. Schon damals begann es
mir zu widerstreben, solche „Werte“ gegeneinander aufzuwiegen.
Warum soll jemand wegen seiner Besonderheit besser oder schlechter
sein als ein anderer mit dessen anderer? Vor allem führten mich
unsere utopischen Zeitreisen zu einer bitteren Erkenntnis: Es war
einfach Zufall, dass ich in meine Zeit hineingeboren war und hier mit
guten Zensuren brillierte. Von der sozialen Herkunft in keiner Weise
privilegiert graute es mir vor der Vorstellung, in einer vergangenen
Zeit zur Welt gekommen zu sein. Meine Art zu denken wäre da abfällig
weggewischt worden. Nur die Muskelkraft hätte gezählt. An der aber
haperte es. Oder was wäre gewesen, wäre ich in einer vergangenen
Zeit zur Schule gegangen? Beim Auswendiglernen war ich schwach. Ich
wäre also ein „schlechter“ Schüler gewesen. Wer konnte mir
sagen, welche Qualitäten in 100 Jahren erwünscht sein würden –
die ich vielleicht hätte, vielleicht aber auch nicht. Mein gutes
Zeugnis war also nicht objektiv, sondern dem Zufall geschuldet, dass
Fähigkeiten zu meinen Besonderheiten zählten, die gerade erwünscht
und messbar gewesen waren.
Auch
bei der Einschätzung der „Persönlichkeit“ gab es breit
gefächerte Unterschiede. Wir Schüler hatten uns einen Sport daraus
gemacht, in den letzten Schultagen der Jahre das Klassenbuch zu
durchstöbern. Dort trug dann jeder Lehrer für jeden Schüler die
„Kopfnoten“ ein: Betragen, Mitarbeit, Ordnung …
Gesamtverhalten. Bei „Betragen“ erhielt ich vom Klassenlehrer
Dreien oder Vieren. Nicht wenige andere Fachlehrer werteten „sehr
gut“. Aber ich war doch derselbe Mensch?! (Nur eben nicht
pflegeleicht und normgerecht.) Klar, ich fiel aus dem Raster. Dafür
gab es mehrere Erklärungen: Entweder war das Raster falsch oder es
war falsch, mit einem „Raster“ zu arbeiten oder … ich hätte
mich endlich richtig anpassen
müssen an das, was Andere von mir erwarteten. Gelegentlich versuchte
ich das. Aber es ging nicht. Ich hätte mich selbst verleugnen
müssen.
Es
folgte eine beruflich extrem wilde Zeit. Mit großer
Wahrscheinlichkeit wäre ich dabei in einer heutigen, also
„kapitalistischen“ Gesellschaft versumpft. Genauer: Ich hätte so
viele Sprünge einfach nicht geschafft. Zumindest hätte ich meinen
Lebenslauf da wohl entweder fälschen oder akzeptieren müssen, dass
ich, als unzuverlässig abgestempelt, zu den meisten
Vorstellungsgesprächen überhaupt nicht eingeladen worden wäre.
Innerhalb von drei Jahren wechselte ich zwischen drei Berufen in
Handel, Kultur und Industrie, wurde ich von der „Nationalen
Volksarmee“ nach einem halben Jahr als unverdaulich wieder
ausgespuckt und … fand dank der erwünschten Praxiserfahrungen
einen Studienplatz als künftiger Lehrer. Ich blicke auf viele
Details heute mit Verwunderung zurück. Eigentlich hätte es das
alles nicht geben dürfen. Es gab mich aber …
Ich
bin also schon früh zwischen „anständigen“ Berufen und der
Kunst hin und her gependelt. Logisch, dass mir die Art von Künstlern,
mit Arbeit umzugehen, so nahe liegt, dass ich sie gern als
künstlerisches Bild für die Arbeit im Kommunismus verwende. Denn
meine Vorstellung ist ungefähr so, dass sich dann fast alle Arbeit
als Kunst beschreiben lassen wird. Aber eben nur fast ...
Es
wäre mir sicher möglich gewesen, nach der 8. Klasse aufs Gymnasium
zu wechseln. Diese Einrichtung hatte aber bei uns den Ruf, nur etwas
für strebsame Mädchen zu sein. Außerdem hatte ich keinerlei
Berufsziel. Allein auf die Frage, was ich NICHT wollte, hätte ich
eine Antwort gehabt: Mein Geld mit körperlicher, besonders
handwerklicher Arbeit zu verdienen. Aber positiv etwas wollen?
Mein
Vater hatte sich dafür eingesetzt, dass ich einen der drei
Ausbildungsplätze zum „Wirtschaftskaufmann mit Abitur“ in seinem
Betrieb bekam. Mutter und Schwester waren Verkäuferinnen, also im
Handel, Vater in der Großhandelsgesellschaft „Waren täglicher
Bedarf“. Die Ausbildung interessierte mich … nicht. Ich konnte ja
aber nicht nichts machen. Wenigstens war ich „untergebracht“. Ich
durchlief in der Ausbildung die verschiedensten Abteilungen und
Bereiche des Betriebes, der für die Versorgung Schwerins mit Waren
des täglichen Bedarfs zuständig war. Ich wurde dann als kleiner
Sachbearbeiter in der Süßwarenabteilung übernommen. Kein Traumjob,
aber zumindest kam ich mit den Kollegen zurecht und die mit mir.
Doch
das Verderben wartete schon: die Einberufung zum Grundwehrdienst bei
der „Nationalen Volksarmee“. Um die Rolle des „Ehrendienstes“
bei den „bewaffneten Organen“ für Jungen rankten sich viele
Legenden. Die wichtigste: Nur wer sich freiwillig wenigstens für
drei Jahre verpflichtete, bekäme einen Studienplatz. Ich hatte zwar
noch immer keine Vorstellung, WAS ich eventuell studieren könnte,
aber dass ich das irgendwann tun würde, wollte ich mir nicht
verbauen. Aber dafür zur Armee?! Eher nicht! Also begann ich die
Pflicht-Dienstzeit mit der Absicht nicht aufzufallen. Stattdessen
leistete ich mir erst einen kleinen Unfall und sorgte dann mit
regelmäßigen Fingern im Rachen für Erbrechen. Schließlich wurde
ich nach einem halben Jahr ins zivile Leben entlassen. Problem: Ich
war nun ein Jahr zu früh in Freiheit. Der Betrieb musste mich zwar
wieder aufnehmen (so war das halt in der DDR), aber der Platz in
meiner Abteilung war besetzt. Der einzige freie im Betrieb war einer
in der Kosmetik-Reklamationsabteilung. Klar, dass ich so schnell wie
möglich irgendwo anders hin wollte. Ich ahnte noch nicht, welche
psychischen Schäden die Armeezeit hinterlassen hatte und wie lange
die Schreibblockade anhalten würde, also nahm ich noch einen Anlauf
in Richtung Schreiben … Dass ich als
„kulturpolitisch-künstlerischer Mitarbeiter für künstlerisches
Wort beim Kreiskabinett für Kulturarbeit“ alles besonders gut
machen wollte, ahnst du wohl schon. So wurde der Ausflug in die Welt
der Kulturorganisation natürlich zum Fiasko. Gleich der erste
Auftritt bei einer höheren Charge im Kreis, konkret beim Direktor
des einzigen Gymnasiums, misslang und führte zu einer handfesten
Beschwerde. Ich wäre ihm, einem angesehenen Leiter, überheblich
gekommen, hätte ihn beleidigt, er mache nicht genug zur Förderung
der Begabung seiner Schüler … so in dem Sinn. Meine Vorgesetzte
zog daraus den Schluss, dass ich wohl doch etwas zu grün für die
Aufgabe wäre und mir lieber Praxis in einem Produktionsbetrieb holen
solle. Heute wäre dies ein Rauswurf in der Probezeit gewesen, damals
gönnte man mir etwa ein halbes Jahr, mir etwas Geeignetes zu suchen.
Diese Zeit verbrachte ich überwiegend mit Basisarbeit bei
Schreibenden und Laienkabarettisten in Betrieben und mit der
Erarbeitung von Muster-Programmen zu allen möglichen Fest- und
Gedenktagen. Ein besonderes Vergnügen bereitete es mir, zum „Tag
der Nationalen Volksarmee“ ein expressiv antimilitaristisches
Programm zu verbreiten. Besondere Genugtuung: Nun kamen Danksagungen
aus mehreren Betrieben im Kreiskabinett an. Wahrscheinlich hatte man
nichts als trockene Lobhudeleien erwartet.
Nach
dieser Erfahrung landete ich in einem der Schweriner Großbetriebe.
ORSTA Hydraulik war innerhalb eines „Kombinats“ der
Endfertigungsbetrieb für große hydraulische Anlagen. Ich wurde in
der Materialwirtschaft eingesetzt. Eine hydraulische Anlage besteht
im Wesentlichen aus drei Grundelementen: einem Motor, einer Pumpe und
Zubehör. Ich war zuständig für bestimmte Zubehörteile, namentlich
Hydraulikventile und Verschraubungen. Vielleicht nicht gerade die
Perspektive, von der aus eine Volkswirtschaft zu erklären ist, aber
meine ...
Es
gab natürlich einen spezifizierten Plan, welche Aggregate wann in
welcher Zahl zusammenzubauen gewesen wären, welche Einzelteile und
Baugruppen also pünktlich hätten zur Verfügung stehen müssen.
Antworten auf die Frage, warum die benötigten Aggregate jeweils
nicht zur Verfügung standen, drangen nicht bis auf meine Ebene
herunter. Dass sie nie so ankamen, wie ursprünglich geplant, merkte
jeder. Da dann permanent versucht wurde, einen korrigierten Plan
vorzulegen, der eventuell umsetzbar gewesen wäre, gab es im Laufe
der Zeit bald niemanden im Betrieb, der die anfängliche Planung noch
ernst nahm. Letztlich lief alles darauf hinaus, gegen Ende der Monate
an die Zahlenfront zu werfen, was dann wirklich montierbar war. In
diesem Chaos spielte meine Abteilung eine eher untergeordnete Rolle.
Jeder sah ein, dass kein Aggregat ohne die passende Pumpe und ihren
Motor entstehen konnte. Wenn dann zu erahnen war, welches Aggregat
Chancen hatte, tatsächlich noch im laufenden Monat gebaut zu werden,
galt es, irgendwie auch noch den Kleinkram dazu zu besorgen.
Nun
hat so eine „Planung“ Konsequenzen: Die unmittelbare Montage
sollte jeweils dann beginnen, wenn alle zu montierenden Teile am
Montageplatz vorlagen … EIGENTLICH eine sinnvolle Vorgehensweise.
Zur detaillierten Planerfüllung gehörte auch, die Kleinteile nach
dem Ausgangsplan aus dem Lager in die Montage zu bringen.
Gelegentlich geschah dies auch. Im seltensten Fall wurde ja aber
wirklich nach dem Ursprungsplan produziert. Wer also gut gearbeitet
hatte, musste doppelt arbeiten, weil die planmäßigen, aber unter
den neuen Vorgaben nicht verwendbaren Teile nun der tatsächlichen
Fertigung im Weg waren. Das Ergebnis bei den Lagerarbeitern war eine
pervertierte Form von Dienst nach Vorschrift: Sie rührten nichts
mehr an, wovon sie nicht wussten, dass auch die anderen Bauelemente
vollständig vorlagen. Da diese Bedingung mindestens an den ersten 22
Tagen jedes Monats fast nie erfüllt war, rührte sich in meinem
Lagerbereich in dieser Zeit so gut wie nichts. Da es aber
ausgeschlossen war, drei Wochen hintereinander tatsächlich NICHTS zu
tun, wurde saufend und Karten spielend beieinandergesessen. Dieses
System hatte weitere für die Lagerarbeiter angenehme Nebeneffekte:
An den letzten Tagen der Monate „brannte die Luft“: Da musste all
das bis dahin Versäumte mit den nun tatsächlich vorhandenen Teilen
nachgeholt werden. Denn letztlich sollten die Pläne ja sogar
übererfüllt werden. (Irgendwelche sind es auch offiziell.) Das war
nun in regulärer Arbeitszeit nicht zu bewältigen. Da wurden
Sonderzahlungen lockergemacht, nur damit sich die Arbeiter an
Wochenenden im Betrieb sehen ließen – neben den „normalen“
Zuschlägen, versteht sich.
Diese
Situation war der Normalzustand, als ich meine Arbeit im
Produktionsbetrieb aufnahm. Naiv wie ich war, versuchte ich
umzusetzen, was ich umsetzen sollte. Stieß auf lauter
Unmöglichkeiten. Musste, um etwas (oder jemanden) zu bewegen, die
Arbeiter mit Wodka ködern. Vieles wurde auf dieser Basis möglich.
Von Abteilungsleitern aufwärts war „unten“ niemand zu sehen. Man
könnte meine Eindrücke „Kulturschock“ nennen. Irgendwie verging
mir beim Anblick der die Arbeitszeit totsaufenden Kollegen die
Illusion von der Arbeiterklasse an der Macht und vom „Volkseigentum“
… Sahen so „Eigentümer“ aus? Angetrunkene in Erwartung des
nächsten „Schicksalsschlages“ namens „Plankorrektur“?!
Wie
gesagt, ich brachte den „Lunikoff“ mit, wenn ich etwas wollte,
und die Arbeiter, überwiegend junge Leute, kümmerten sich dann um
„mein“ Problem. Dass wir voneinander nicht besonders viel
hielten, verheimlichten wir nicht, aber der „Sesselfurzer“
kümmerte sich eben und das würdigten sie auf ihre Weise …
Schon
beim zweiten Mal war ich gefordert, wenigstens mit anzustoßen. Trotz
aller Vorbehalte gegeneinander kamen bald Gespräche zustande. Eines
dieser Gespräche drehte sich um Verschraubungen für Ventile, von
denen bei mir buchtechnisch viele vorrätig waren, von denen die
Arbeiter aber behaupteten, sie seien alle. Nach einigem Hin und Her
stellte sich heraus, dass die Gesuchten bei einem der Aggregate vor
der Montage gegen die Originalverschraubungen ausgetauscht wurden.
Die laut Plan vorgesehenen passten nämlich nicht. Je länger wir uns
unterhielten, umso spannender wurde die Angelegenheit. Konnte es
sein, dass da irgendwo ein Fehler vorlag?
Es
lag einer vor. Der war, wie´s aussah, bereits bei der Projektierung
entstanden. Plötzlich ahnten wir, dass wir sowohl Arbeitszeit als
auch Material einsparen konnten. (Die abmontierten nicht passenden
Verschraubungen wurden bisher als Abfall behandelt.) Da es weder
leicht war, den schuldigen Punkt zu finden noch fachgerecht zu
formulieren, wo was verändert werden musste, wuchs eine kleine
Forschungsgemeinschaft zusammen. Dieselben Menschen, die während der
ganzen vorangegangenen Zeit sich eigentlich als gesellschaftliche
Schmarotzer aufgeführt hatten, empfanden sich plötzlich als
Miteigentümer, die selbstverständlich sparsam mit „ihrem“
Volkseigentum umgehen wollten. Man erkannte sie kaum wieder. Aus den
Säufern wurde eine Jugendbrigade. Plötzlich ging es um „uns“ -
unseren Staat, unsere Gesellschaft, etwas, was wir verbessern
konnten. Eine für mich unglaublich erscheinende Wandlung. Thor, wenn
ich es nicht miterlebt hätte, ich hätte es nicht geglaubt.
Nun
ja, die Angelegenheit geriet „natürlich“ später in die Fänge
sozialistischer Bürokratie. Plötzlich hatte das „Büro für
Neuererwesen“ etwas Reales zu tun. Und zwar etwas, was dem Ideal
des Staates sehr nahe kam - hatten sich doch tatsächlich richtige
Arbeiter mit Angestellten und Angehörigen der Intelligenz
zusammengefunden, um einen Arbeitsablauf zu verbessern! „Leider“
nur spontan. Von nun an sollte alles einen planmäßigen Rahmen
bekommen. Wir sollten gezielt und geplant Verbesserungen erarbeiten.
Wir erstellten auch tatsächlich ein Jugendobjekt. Allerdings bestand
dessen Hauptkreativität in der Fixierung eines Nutzens, der nie
eintreten konnte. Ich weiß nicht, wie klar das den Einzelnen war,
aber mir begann die Sache peinlich zu werden. Die planorganisierte
Nützlichkeit verwandelte sich in eine Form des
Sich-in-die-Taschen-Lügens. Ich suchte im Unterbewusstsein bereits
eine Fluchtmöglichkeit. Es war nur vorübergehend ein Keim
aufgegangen. So wäre unsere Gesellschaft geworden …
Zu
jener Zeit war ich mit einer Abiturientin aus Berlin zusammen. Die
hatte außer vielleicht am „Unterrichtstag in der sozialistischen
Produktion“ noch nie einen Arbeiter in Natur gesehen (Der Vater war
Mediziner und Edelgrundstücksbesitzer, die Mutter Hausfrau). Aber
aus dem Staatsbürgerkunde-Unterricht nach Lehrbuch „wusste“ sie,
was und wie die Arbeiterklasse war – und demzufolge nicht sein
konnte – und zum anderen war ihr klar, dass jemand, der behauptete,
so etwas Unmögliches erlebt zu haben wie ich, nur ein Klassenfeind
sein konnte. Nun war ich immer sehr kritisch gewesen. Dass mir aber
meine Bettgefährtin, die keine Ahnung hatte, nicht nur erklären
wollte, was ich erlebt haben konnte (und was nicht), sondern auch,
dass ich ein „Klassenfeind“ war, reizte meinen Widerspruch. Ich
nicht auf der Seite des Sozialismus?! Du wirst schon sehen!
Vielleicht bin ich bald selbst Staatsbürgerkundelehrer – ich weiß
dann wenigstens, wovon ich spreche. Sie zeigte mir einen Vogel –
hätt ich an ihrer Stelle wohl auch. Aber ich meinte das spontan
Gesagte ernst. Gleich in der nächsten Woche lauerte ich am
Arbeitsplatz auf eine Gelegenheit, allein das Telefon benutzen zu
können. Die Nummer der Hochschule, die die von mir angestrebte
Fachkombination Deutsch und Staatsbürgerkunde anbot, hatte ich mir
bereits herausgesucht. Kaum war ich ungestört, erkundete ich mich
dort, ob noch ein Platz frei sei. Deutsch / Staatsbürgerkunde nicht,
aber Staatsbürgerkunde / Deutsch, bekam ich zur Antwort. Na gut,
nehm ich. Was muss ich denn tun? Einen Antrag ausfüllen und zum Arzt
und man schicke mir alle Formulare zu.
Das
war im August. Im September desselben Jahres (!) begann ich mein
Lehrerstudium. Die anderen Studenten hatten sich natürlich ein Jahr
früher beworben und waren im Mai bereits zu einem Jugendlager
zusammengetroffen.
Die
Eile enthielt auch einen Bumerang, der später auf mich zurückfiel:
Jeder zukünftige Lehrer wurde planmäßig gründlich unter anderem
vom Hals-, Nasen- und Ohrenarzt untersucht, nicht nur, aber auch auf
die Eignung der Stimmbänder. Die waren aufgrund eines
Bronchialinfekts bei mir in jenem August nicht zu begutachten. Der
Arzt schrieb also, dass er keinen Befund erstellen könne. Während
des Studiums stellte sich dann heraus, dass ich unter normalen
Bedingungen nicht zugelassen worden wäre. Aber da ich nun einmal
schon dabei war und ja wollte, konnte ich weitermachen.
Wenn
ich heute von den vielen Bespitzelungen höre, muss ich laut lachen:
So schnell, wie in meinem Fall eine absolut unbürokratische Lösung
möglich gemacht worden war, war damals technisch keine Akte
anzufordern und zu sichten. Selbst hier, wo sich im Nachhinein
eigentlich die spontane Entscheidung als Fehler herausstellte, war
sie etwas Positives.
Darf
man mir verübeln, dass ich das vergnüglich fand? Aus einer
spontanen Tageslaune heraus landete ich auf einem Pädagogenplatz –
und noch dazu auf dem des Rotlichtbestrahlers für unschuldige
Kinder. Ja, so anarchisch habe ich Staatsbürgerkundelehrer werden
können. Und mir ist nie ein „Stasi“-Schlapphut mit dem Wunsch
nach einer „Verpflichtung“ begegnet (aus anderen Gründen auch
nicht) – ich war damals nicht einmal Mitglied oder „Kandidat“
der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Das war nicht
Bedingung. Später habe ich mich darum bemüht. Das war schwierig.
Ich nahm es allerdings auch ernst mit der Auswahl meiner Bürgen. Ich
hatte meine Freiheit voll ausgereizt und erwartete nicht von
vornherein, dass man ausgerechnet mir Vertrauen entgegenbrächte –
brachte man aber.
Während
wir bei der praktischen Ausgestaltung des Studiums und im Ausreizen
unserer Meinungsbildung in der „Sektion Marxismus-Leninismus“
große Freiheiten genossen, beobachteten wir bei den Studenten der
Geschichtssektion Anderes. Dort wurde schulmäßig gegängelt. Viele
der Gedankengänge, mit denen uns unsere Professoren „bearbeiteten“,
hätten nach heute üblichem DDR-Bild deren sofortiges Verschwinden
in „Stasi-Knästen“ zur Folge haben müssen.
Einzig
die „Freiheit“ zum Drogen“konsum“ hatten wir nicht – ich
glaube aber nicht, dass mir da etwas entgangen sein könnte – mit
Alkohol wurde die „Erfahrungslücke“ ausgefüllt. Klar wäre ich
gern auch einmal durch die andere Hälfte der Welt gereist, aber mit
offenen Augen durch die Länder des Ostens zu reisen war zumindest
bereichernder, als sich an fernen Küsten zuzuballermannen.
Für
meinen Gesamtweg war dann ein anderer Bruch Ausschlag gebend: Klar,
ich konnte mich hinter den Stimmbändern verstecken. Aber
wahrscheinlich wäre ich nie ein guter Lehrer geworden. Was den
Umgang mit Schülern anging, bin ich eben eher „Coach“ oder
Geistes-“Trainer“ für interessierte Gruppen als ein Massen
dressierender Lehrer. An der ersten Einsatzschule nach dem Studium
war ich aber der einzige Staatsbürgerkundelehrer. Ich hatte alle
Schüler der Schule in dem Fach zu unterrichten, ohne sie je kennen
gelernt zu haben. Vielleicht hätte man mir meine „Anfangsprobleme“
kameradschaftlich verziehen. Aber eine Kollision mit der
Parteisekretärin der Schule brachte das Ende. Meine scharf
antimilitaristischen Auffassungen, die natürlich auch nicht vor
menschenfeindlichen Umgangsformen innerhalb der NVA Halt machten,
stießen bei der „150prozentigen“ Genossin, deren beide Söhne
begeisterte Offiziere waren, auf „machtvolle“ Ablehnung. So etwas
wie mich konnte man nicht auf sich erst entwickelnde Persönlichkeiten
loslassen. Als sich mein Scheitern immer klarer abzeichnete, schien
mir die Konsequenz klar: Ich war im Kreis der Versager gelandet.
Meiner damaligen Partnerin (und späteren Ehefrau) verdankte ich die
Chuzpe, mich trotzdem auch für Aufgaben zu bewerben, die
anspruchsvoller als die eines Lehrers erschienen. Ich wollte und ich
bekam erneut eine Chance. Ohne recht zu ahnen, was mich erwartete,
landete ich im Bildungsbereich eines Außenhandelsbetriebes, aber
davon erzähle ich später weiter. Wir wollten ja gedanklich ein paar
Bereiche des praktischen „gesellschaftlichen“ Lebens
durchspielen. Und bitte komm mir nicht wieder mit der Versorgung im
Einzelhandel. Das hängt mir zum Hals raus: Auf der einen Seite der
Mangel und und auf der anderen die vollen Schaufenster. …Aber
okay, wer die DDR erlebt hat, weiß, dass dort selbst mit Wartezeiten
auf einen neuen PKW schwarz gehandelt wurde, der Preis für
gebrauchte teilweise weit über dem für Neuwagen lag (weil er eben
den Wartezeitbonus enthielt) und dass außerhalb der Hauptstadt der
Erwerb vieler relativ „normaler“ Lebensmittel ein Glücksfall war
...
...
Ohne
den DDR-Staat abzulehnen (allerdings auch nicht kritiklos
anzunehmen), fand ich eine Nische genau für mich. Nur hatte mein
„Nischendasein“ Formen, die nicht nur ihrer Zeit weit voraus
waren, sondern heute schwer vorstellbar sind. Gut … Die Abteilung
war in wechselnden Wohnungen untergebracht, also nicht auf dem
Betriebsgelände. Die Kollegen hatten alle gut voneinander
abgegrenzte Verantwortungsbereiche. Der Abteilungsleiter schirmte uns
vertrauensvoll ab. Insoweit waren die organisatorischen
Voraussetzungen für hohe Eigenständigkeit günstig.
Meine
Aufgabe war eine Dienstleistung für das Kombinat. Der
Außenhandelsbetrieb war zuständig für die Tätigkeit aller
Kombinatsbetriebe im Ausland. Alle diese „Reise- und Auslandskader“
hatten vor ihrer ersten Auslandsdienstreise (und dann rhythmisch)
einen Lehrgang zu absolvieren. Was dort Gegenstand sein sollte, war
in allgemeinen Ministeriumsplänen festgehalten. Allerdings waren die
genau genommen ein geballtes Gesamtstudium Außenwirtschaft,
Weltanschauung und Menschenqualität / Benehmen in der Öffentlichkeit
in einem. Also so weit gefasst, dass auf jeden Fall vom großen Plan
abgewichen, sprich: gestrichen werden musste. Was das war, blieb den
Bedingungen vor Ort überlassen. Ich hatte die tatsächlichen
Lehrgänge zu planen und diese Planung praktisch umzusetzen. Dabei
hatte ich freie Hand, woher ich welche Dozenten gewann (aufs Inland
beschränkt). Es wäre überhaupt nicht aufgefallen, hätte ich
einige Tage nur Privatangelegenheiten erledigt. Da wäre ich eben auf
Dozentensuche gewesen.
Das
Maß an Kreativität bei der Arbeit war sehr hoch. Ich hätte zwar
auch ohne anzuecken etwas „zum Abhaken“ machen können, aber
gerade weil ich es selbst wollte, jagte ich laufend Verbesserungen
hinterher. Seltsamerweise schlug das besonders die schwächsten
Glieder der Abteilung in den Bann. Wir „Verantwortungsträger“
teilten uns nämlich eine Sachbearbeiterin /
Schreibkraft, die nach Bedarf für jeden von uns Hilfsarbeiten zu
erbringen hatte. Die erste war aber oft in Gedanken (und mindestens
am Telefonhörer) beim Bändigen ihrer pubertierenden Tochter (sie
war allein erziehend) – also „abwesend“. Ihr Ruf war demzufolge
wenig berauschend: Faul, quatscht viel, hat von nichts Ahnung …
usw.
Ich
war nicht ihr „Chef“. Aber ich nutzte sie zum Ideentest und für
organisatorische Aufgaben sehr komplexer Art. Ergebnis: Sie blühte
allmählich auf. Sie entwickelte Vergnügen an der (Mit-)Lösung von
Problemen, die nicht von vornherein lösbar schienen. Sie brachte
sich in immer beeindruckenderem Umfang in die Arbeit ein. Schließlich
wuchs in ihr Stolz darauf, was WIR geschafft hatten. Bei ihrer
jüngeren Nachfolgerin war dies noch stärker. Während sie von den
Anderen behandelt wurde wie jemand, von dem man wenig hielt, konnte
sie sich neben mir voll entfalten. Abgesehen davon, dass sie durchaus
intelligent war, verstanden wir uns gut zu ergänzen. Über ihre
weiblich charmanten Umgangsformen verfügte ich nun mal nicht –
jeder zog aus dem Anderen die größten Nutzeffekte, zusammen
erreichten wir ein Niveau, auf das wir uns einiges einbilden konnten
und das jeder für sich allein nie erreicht hätte.
Beide
Sachbearbeiterinnen wuchsen über sich hinaus, indem sie fast
selbständig gestellte Aufgaben lösten … im Gefühl, dass eine
schwierige Aufgabe von ihnen (mit) gelöst werden würde, weil genau
sie das ihrer ganz persönlichen Qualitäten wegen lösten. An sich
Banalitäten. Aber es kann schon beeindrucken, wie weit Menschen über
ihren Schatten springen können, wenn die Rahmenbedingungen dafür
stimmen. Bei beiden Kolleginnen war die unterschwellige Verachtung,
die ihnen meist entgegengebracht worden war, nicht von vornherein
unberechtigt. Beide aber entfalteten eigene Qualitäten, sobald die
als wertvoll angenommen wurden.
...
Es
war im Anschluss an mein Studium und begann mit einem für mich
typischen Reinfall. Im Frühsommer wurde ich mit einer Studentin
verkuppelt, die ihre Semesterferien bereits verplant hatte. Ohne
meine körperlichen Probleme zu berücksichtigen, stimmte ich spontan
zu, mit ihr und ihren Freunden durch die rumänischen Karpaten zu
wandern. Einfach Rucksack gepackt und los. Bei den ersten
Beanspruchungen meiner Knie wurde dann deutlich: Es ging nicht.
Alleine zurück? Liane hatte den rettenden Einfall. Wir trennten uns
von den Anderen und zu zweit begann eine Tour, bei der ich nicht
sagen kann, ob sie sich heute irgendwo auf der Erde wiederholen ließe
...
Unsere
Route kann ich nicht beschreiben. Wir haben keine „offiziellen“
Stationen gemacht, also irgendetwas Hotelartiges aufgesucht, sind
getrampt ohne konkretes Ziel. Höchstens: In der Gegend gab es viele
Leute, die Deutsch sprachen. Solche Leute wollten wir finden, bei
ihnen übernachten, uns unterhalten und Vorschläge bekommen, was wir
als Nächstes ansehen sollten. Es gab keine Kontaktprobleme und kaum
jemand fuhr an uns vorbei, ohne zu halten und nach unserem Ziel zu
fragen. Die Freundlichkeit war allgegenwärtig, beschränkte sich
nicht auf die Solidarität der sich verfolgt fühlenden deutschen
Minderheit. Das war Erlebnis eins: Wir wurden laufend durch
Gemeinschaften gereicht, die alle bedingungslos offen und herzlich zu
uns waren, etwas gaben ohne Gegenleistung. Für einen Deutschlehrer
war natürlich die Begegnung mit Menschen, die ein „Deutsch“ von
vor 150/200 Jahren sprachen, ein Erlebnis für sich. Gerade die
Assimilierungspolitik unter Ceausescu förderte als Anti-Haltung das
Festhalten an überlieferten Traditionen. (Insoweit kann ich heute
die „Migranten“ in Deutschland leichter verstehen, dass sie sich
nicht in Deutsche dritter Klasse umwandeln lassen wollen.)
In
einem abgelegenen Dorf geschah es dann. Wir waren ein Stück fröhlich
in Richtung Ortsausgang gelaufen. Da überraschte uns ein
Gewitterguss. Der Regen kam schneller, als ich das aufschreiben kann,
und mit urwüchsiger Kraft. Vom nächsten Grundstück war eigentlich
nur ein Rasenstück mit Baum zu erkennen. Liane reagierte und
dirigierte schneller, als ich denken konnte. Ehe ich mich versah,
hatten wir unser Zelt aufgebaut und waren darin dabei, uns aus den
nassen Sachen zu schälen. Da hob sich die Plane am Eingang. Ein
Frauengesicht tauchte auf. So wie zuvor vom Regen wurden wir nun von
Schimpfworten überschüttet. Wir verstanden nur, dass die Frau
Rumänisch sprach und unsere Versuche, auf Deutsch oder Englisch zu
antworten, ignorierte. Nein: Wir verstanden noch, dass wir weg
sollten. Wollte die Frau uns von ihrem Privatgrundstück vertreiben?
Was wir uns einbildeten, ohne zu fragen darauf zu zelten? Sie war
ausdauernd und trieb uns ins Haus, das wir bei dem dichten Regen
zuvor nicht gesehen hatten. Wir wurden in ein Zimmer mit Doppelbett
und vielen Handtüchern eingewiesen und … kaum getrocknet hatten
wir der „Hausherrin“ zu folgen.
In
der „guten Stube“ empfing uns „die Familie“, die im Laufe des
Nachmittags und Abends immer weiter anschwoll. Was sich da ereignete,
war höchstens mit einer großen Hochzeitsfeier vergleichbar. Die
Rumänen lebten zu dieser Zeit und in dieser Gegend extrem ärmlich.
Auf der Festtafel vor uns aber mangelte es an nichts. Immer wieder
wurden wir genötigt, das und das und das zu probieren. Jemand, mit
dem wir uns hätten sprachlich verständigen können, fand sich
nicht. Uns zu Ehren (?!) wurde ein Fest wie für Staatsgäste
inszeniert, das in der Menge des Aufgetragenen wohl das
Monatseinkommen der Anwesenden überstieg. Übersättigt und stark
angetrunken sanken wir letztlich irgendwann in unsere Himmelbetten.
(Wir waren im Schlafzimmer der Hausherren gelandet ... merkten wir
später.)
Wir
wurden am folgenden Vormittag verabschiedet wie gute alte Freunde –
wenn auch in der Gewissheit, dass wir einander nie wieder sehen
würden. Der Schock kam, als wir Mittagsrast machen wollten. Da
stellte sich nämlich heraus, dass „jemand“ uns außer
Fresspaketen noch Bierflaschen in die Rucksäcke gesteckt hatte. Dazu
musst du wissen, dass Bier in jener Gegend nicht nur extrem teuer,
sondern auch selten gewesen war. Das hatten die Leute nicht einfach
so in ihrem nicht vorhandenen Kühlschrank. Der heimliche Beschenker
war deshalb zurecht davon ausgegangen, dass wir diese Gabe nicht
angenommen hätten, aber Bier eben das Getränk für Deutsche war.
Ich
kann nicht einmal sagen, ob wir wenigstens auf Rumänisch „Danke!“
für die Gastfreundschaft gesagt hatten … (Zumindest den von den
Anderen verwendeten Abschiedsgruß haben wir imitiert.)
Ich
gebe zu, ich wäre zu einer solch vorbehaltlosen Form der
Gastfreundschaft Fremden gegenüber nicht fähig. Allerdings die
Freude an der Feier konnten wir mitempfinden. Und wir erahnten
zumindest das spitzbübische Vergnügen der Einheimischen bei der
Vorstellung, mit welcher Verwunderung wir die heimliche Gabe
entdecken würden. Nach unseren Maßstäben war diese unschuldige
Freude allerdings extrem teuer „erkauft“.
Viel
später wurde mir bewusst, dass wir eine Art „Potlatch“ erlebt
hatten. Logisch, dass ich mich damit dann näher beschäftigte –
ganz davon abgesehen, dass den Heranwachsenden in der DDR ein Stück
Indianer-Romantik nahe gebracht worden war - wohl so wie im Westen
die Simulation des freien Lebens als Cowboy. Man nimmt bestimmte
Werte unbewusst auf. Und die DDR-Indianerfilme (zumindest die ersten)
waren sehenswert.
Ich
breche die Reisen in eigenes Erleben hier ab. Vielleicht ahnst du bis
hier, welches Denken in der DDR entstehen konnte (wenn auch erst
selten). Es waren nur ferne Vorboten dessen, was wir dann doch
nicht geschafft haben.
Ach
Thor, nun habe ich dich gnadenlos mit Ideologie beschossen. Es freut
mich zwar, dass du dich so diplomatisch bedankt hast, aber … Weißt
du, eigentlich war alles nur ein überlanger Entschuldigungszettel:
Ich habe ja in der DDR gelebt und bin nicht blind herumgelaufen. Ich
kann zwar darauf verweisen, dass ich oft widersprochen habe, mich
bemüht habe, auf Mängel in unserem System hinzuweisen. Aber eben
nicht bis zur letzten Konsequenz, nicht genug. Ich habe mich
eingerichtet und wäre jetzt vielleicht ein selbstgefälliger Doktor
der Pädagogik, der über Verifizierung von Methoden der
Kenntnisvermittlung in der Erwachsenenqualifizierung seine Eitelkeit
befriedigte. Damit mitschuldig am Scheitern eines Anlaufs für eine
gute und nötige Sache. Ich möchte nicht, dass es dir später einmal
genauso geht, dass du dir heimlich sagst, du hättest mehr tun müssen
und können und nun fliegst du im freien Fall in den Abgrund und es
ist zu spät. So richtig alt bin ich ja noch nicht. So hoffe ich
einfach, dass das nicht das Ende, sondern der Anfang unseres Kontakts
ist und du jetzt noch mehr Fragen hast als vorher. Dann hätte ich
nämlich erreicht, was ich wollte ...
seitensprung
ich habe bei der
gewissheit
gelegen
sie
verließ mich
geschwängert
mit
fragen
ewig
zahle ich
unterhalt
für mein
aber
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen